KiSS-Syndrom: Tatsächliche Ursache frühkindlicher Fehlhaltungen oder Fake?

vonConnie Gräf-Adams | freie Autorin
Mutter hält weinendes Baby mit KiSS-Syndrom
Häufiges Schreien bei Babys kann ein Symptom für das KiSS-Syndrom sein
Pexels / Sarah Chai

Keine Frage: Wenn das Baby unaufhörlich schreit, eine schiefe Körperhaltung zu beobachten ist und es Schwierigkeiten beim Stillen gibt, sind Eltern zu Recht in Sorge. Einige Alternativmediziner scheinen eine einfache Erklärung für die verschiedenen Probleme gefunden zu haben: eine Kopfgelenk-induzierten Symmetrie-Störung, kurz KiSS-Syndrom. Eine Diagnose, die in der Schulmedizin jedoch auf heftige Ablehnung stößt. Ein kritischer Blick auf die Modediagnose.

Was genau bedeutet KiSS-Syndrom?

Auch wenn die Assoziation womöglich da ist und man zunächst an die Kissing Disease denken muss – mit Küssen hat das KiSS-Syndrom nichts zu tun. Stattdessen bezeichnet der Begriff eine Fehlstellung der beiden oberen Halswirbel, also Atlas (C1) und Axis (C2), die die Verbindung der Wirbelsäule zum Kopf darstellen. Geprägt wurde er Anfang der 1990er Jahre von dem Manualmediziner Heiner Biedermann. Diese Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störung soll für spätere Entwicklungsstörungen bei betroffenen Kinder verantwortlich sein. Eindeutige Beweise gibt es dafür aus schulmedizinischer Sicht allerdings nicht!

Was soll das KiSS-Syndrom verursacht haben?

Als mögliche Ursache der Fehlstellung sehen Biedermann und die Befürworter der KiSS-Theorie, dass der Kopf und der obere Halswirbelsäule zu starkem Druck ausgesetzt waren infolge

Welche Symptome werden dem KiSS-Syndrom zugeschrieben?

Die Fehlstellung der Wirbel wird mit einer Fülle an körperlichen und psychischen Symptomen in Verbindung gebracht:

  • Einseitige Haltung des Babys: Das Baby dreht den Kopf hauptsächlich zu einer Seite
  • Asymmetrische Kopfform: Der Hinterkopf ist einseitig stark abgeflacht durch das Liegen auf einer Seite
  • Trinkschwäche: Schwierigkeiten beim Stillen und Schlucken aufgrund der einseitigen Haltung
  • Schiefe Haltung von Kopf und Rumpf
  • Überstrecken des Körpers
  • Allgemeine Unruhe und nur kurze Schlafphasen
  • Übermäßiges und anhaltendes Schreien
  • Vermehrtes Spucken und Sabbern

Laut Biedermann sind vier bis fünf Prozent aller Kleinkinder vom KiSS-Syndrom betroffen. Welche der genannten Beschwerden auftreten, sei abhängig vom Einzelfall.

KiDD-Syndrom: Welche Spätfolgen werden erwartet?

Befürworter der KiSS-Theorie warnen davor, die Wirbel-Fehlstellung im Säuglingsalter unbehandelt zu lassen. Zwar könne sich der Schiefstand des Kopfes im Wachstumsverlauf bessern, bei älteren Kindern seien jedoch Folgeschäden zu befürchten.

Auch hierfür existiert eine eigene Begrifflichkeit: Kopfgelenk-induzierte Dyspraxie und Dysgnosie, kurz KiDD-Syndrom.

Zu deutsch bedeutet das, dass es zu Entwicklungsstörungen kommen kann, die mit fein- oder grobmotorischen Störungen und einer mangelnden Fähigkeit, Gelerntes zu reproduzieren, einhergehen.

Äußern soll sich das durch eine lange Liste unterschiedlichster Symptome wie Kopfschmerzen und Migräne, Rücken- und Knieschmerzen, Fehlhaltungen und Bewegungseinschränkungen, Lernschwierigkeiten in der Schule, Verhaltensauffälligkeiten, Hyper- oder Hypoaktivität, vegetativen Störungen und kieferorthopädischen Problemen.

Wie wird das KiSS-Syndrom diagnostiziert?

Getestet werden klassische Reflexe und Drehbewegungen des Kopfes. Zudem erfolgt eine eingehende Betrachtung von Kopfform, Körperhaltung und Muskelspannung. Zusätzlich zu diesen Untersuchungen, die auch beim Kinderorthopäden üblich sind, erstellen einige Therapeuten Röntgenaufnahmen von Kopf und Halswirbelsäule.

Wie behandeln Alternativmediziner das KiSS-Syndrom?

Bei der Behandlung des KiSS-Syndroms können Methoden der Manualtherapie zum Einsatz kommen. Im Zentrum der Behandlung steht die Verbindung der Wirbelsäule mit dem Kopf über die Kopfgelenke. Ziel ist es, dort Blockaden zu lösen und die Beweglichkeit zu verbessern.

Der Therapeut ertastet mit den Händen die Stellung der Halswirbel und mobilisiert die Gelenke durch mechanische Impulse. Dies soll die angeblich vorliegende Fehlstellung der Gelenke korrigieren und Wirkungen auf die generelle Körperspannung entfalten.

: Kosten der Behandlung
Beteiligen sich Krankenkassen?

Da die Schulmedizin das KiSS-Syndrom nicht anerkennt, werden die Kosten entsprechender Therapien von gesetzlichen Krankenkassen nicht übernommen. Die Kosten hängen von der Preisgestaltung des jeweiligen Therapeuten ab. Ein paar hundert Euro sind vermutlich zu veranschlagen.

Kritik am KiSS-Syndrom: Warum stellt die Schulmedizin das in Frage?

Der größte Kritikpunkt der Schulmedizin am KiSS-Syndrom: Es fehlen kontrollierte Studien, welche die Existenz des Syndroms und seine Auswirkungen bestätigen könnten.

  • Wissenschaftliche Übersichtsarbeiten finden keine aussagekräftigen Studien, die nachweisen können, dass Körperschiefstellungen vor allem auf minimale Blockaden in den Kopfgelenken zurückzuführen sind.
  • Die postulierten Auswirkungen des KiSS-Syndroms lassen sich nicht belegen, insbesondere nicht die angeblichen Langzeitfolgen.
  • Zur therapeutischen Behandlung und der daraus resultierenden Verbesserung der Symptome liegen keine kontrollierten Studien vor, die eine Wirksamkeit der Therapie belegen.

Natürlich bestreitet die Schulmedizin nicht, dass Schiefstellungen von Kopf und Hals und motorische Störungen des Säuglings bestimmte ernstzunehmende Diagnosen zugrunde liegen können. Wichtig ist aber eine fachlich fundierte Abklärung! Für frühkindliche Köperschiefhaltungen können zahlreiche angeborene oder erworbene Ursachen in Frage kommen: wie z.B. Muskuläre Imbalance, erhöhter Kopfinnendruck, Trauma, Lähmungen, Frakturen, Wirbelkörperanomalien und in seltenen Fällen Tumore.

Deshalb ist eine sorgfältige Diagnostik durch einen erfahrenen Kinderarzt wichtig, um ernsthafte Erkrankungen auszuschließen.

Welche Risiken befürchten Ärzte?

Auf den ersten Blick erscheinen die Behandlungsansätze der Manualtherapie beim KiSS-Syndrom sanft und harmlos. In einem Merkblatt für KiSS-Kinder wird behauptet, dass bei der angewandten Methode noch nie ernsthafte Komplikationen bekannt geworden seien.

Diese Einschätzung teilt Schulmedizin nicht:

  • Liegt beim behandelten Kind eine Fehlbildung der ersten zwei Wirbel vor, könnte durch die therapeutische Manipulation der Kopfgelenke eine folgenschwere Schädigung verursacht werden. Diese Gefahr könnte im Vorfeld nur durch eine MRT-Untersuchung ausgeschlossen werden, im Röntgenbild ist dies nicht sicher erkennbar.
  • Man weiß zumindest von einem Fall, bei dem ein Säugling bei einer physiotherapeutischen Behandlung verstarb, da dabei die Wirbelsäulenarterien geschädigt und eine Blutung im Schädel ausgelöst wurde.
  • Die Diagnose eines KiSS-Syndroms – wenn andere Krankheitsursachen nicht ausgeschlossen wurden – birgt das Risiko, dass die wahre Ursache nicht rechtzeitig erkannt wird. Publiziert sind zwei Fälle, bei denen nach der Fehldiagnose KiSS und deren Behandlung die zugrunde liegende Erkrankung – ein Gehirntumor – erst spät erkannt wurde.

Wie erklärt sich das positive Eltern-Feedback bei KiSS-Therapien?

Die Anhänger der KiSS-Theorie begründen die Notwendigkeit entsprechender manualtherapeutischer Ansätze unter anderem mit den zahlreichen Erfahrungsberichten von zufriedener Eltern, die in Internet-Foren zu finden sind.

Kritiker führen die positive Resonanz auf einen psychologischen Effekt zurück: Die Diagnose KiSS liefert endlich eine Erklärung für das auffällige Verhalten des Säuglings und beweist, dass die gesundheitlichen Probleme tatsächlich vorhanden sind. In der Folge gingen die Eltern entspannter mit dem Baby um, was sich wiederum beruhigend auf das Kind auswirke.

Was können Eltern bei frühkindlichen Fehlhaltungen tun?

Wenn sich im Säuglingsalter eine Kopf- oder Körperschiefhaltung zeigt, sollte diese unbedingt beim Kinderarzt abgeklärt werden. Sind seltene ernsthafte Erkrankungen ausgeschlossen und es stellt sich bei der Untersuchung eine muskuläre Dysbalance heraus, können gemeinsam mit einem auf Kinder spezialisierten Physiotherapeuten zielgerichtete Behandlungsmaßnahmen eingeleitet werden: Angefangen von der richtigen und wechselseitigen Lagerung des Kopfes bis zu Übungen zur Stärkung der Muskulatur kann die muskuläre Balance gefördert werden. Nicht jede kindliche Fehlstellung bedarf einer Behandlung, sondern reguliert sich mit der weiteren Entwicklung des Kindes.

Quellen