Trennung der Eltern: Hunderttausende Kinder pro Jahr betroffen
Dass eine Ehe wieder geschieden wird, ist nicht selten. Und nicht immer läuft die Trennung friedlich ab – vor allem dann nicht, wenn Kinder beteiligt sind. Insgesamt erlebten laut den Zahlen des statistischen Bundesamtes im Jahr 2020 etwa 119.100 minderjährige Kinder die Scheidung ihrer Eltern. Die Forschungsgruppe PETRA geht im Durchschnitt sogar von etwa 250.000 – 300.000 minderjährigen Kindern pro Jahr aus. Dadurch würden mehrere zehntausend Kinder den Kontakt zu einem Elternteil ganz verlieren – meistens zum Vater.
Denn nach einer Trennung ist ein großer Streitpunkt zunächst der, bei wem das Kind künftig wie aufwachsen soll. Finden Mutter und Vater keine einvernehmliche Lösung, ist es oft nahezu unmöglich, zu einem neuen „Familien-Alltag“ zu finden.
Ob unbewusst oder bewusst: Durch solche Konflikte treibt ein Elternteil den Nachwuchs dazu, sich für ihn und gegen den anderen Elternteil zu entscheiden. Das kann beim Kind zu einem extremen Loyalitätskonflikt führen – schließlich liebt es im Normalfall beide Eltern. Ein Ausweg aus diesem Konflikt ist die „Entsorgung“ eines Elternteils und eine extreme Bindung an den anderen. Daraus kann eine Eltern-Kind-Entfremdung entstehen.
Was versteht man unter Eltern-Kind-Entfremdung?
Eltern-Kind-Entfremdung wurde als „Parental Alienation Syndrome“ (kurz: PAS) erstmals 1985 vom amerikanischen Kinderpsychiater Richard A. Gardner benannt. Kurz gesagt beschreibt es ein Verhalten, bei dem ein Kind sich mit einem Elternteil verbündet und eine Beziehung zum anderen ablehnt ohne legitime Begründung ablehnt. Die ungerechtfertigte und oftmals absurd begründete Ablehnung kann mit regelrechten Verunglimpfungskampagnen gegen die zurückgewiesene Mutter oder den Vater einhergehen. Bei den meisten Fällen von Eltern-Kind-Entfremdung liegt eine konfliktreiche Trennung der Eltern vor.
Am 25. April ist Internationaler Tag der Eltern-Kind-Entfremdung. Er wurde 2006 ins Leben gerufen und soll weltweit auf das Leid der betroffenen Kinder und Eltern aufmerksam machen.
Hat ein Kind eine gewalttätige Partnerschaft seiner Eltern erlebt, kann das auch zu PAS führen. Nach der Trennung kann es passieren, dass sich das Kind dem „starken“, gewalttätigen Elternteil zuwendet und sich vom „schwachen“ entfremdet.
Nicht jeder Kontaktabbruch ist Eltern-Kind-Entfremdung
Es kann eine Vielzahl von Gründen dafür geben, dass kein Kontakt mehr zwischen Elternteil und Kind besteht. Nicht jeder davon gilt als Eltern-Kind-Entfremdung. Bei folgenden Szenarien etwa wird der Begriff nicht benutzt:
- Ein Elternteil verhindert jeden Kontakt zum Kind (Kindesentzug)
- Es gibt einen legitimen Grund für den Kontaktabbruch – zum Beispiel weil Vater oder Mutter das Kind vernachlässigt haben oder ihm körperliche Gewalt angetan haben –
- Ein Elternteil bricht aus eigenem Antrieb den Kontakt zum Kind ab
Welche Formen von Eltern-Kind-Entfremdung gibt es?
Üblicherweise unterscheidet man heute zwischen leichter, mittlerer und schwerer Eltern-Kind-Entfremdung. Richard A. Gardner hatte 8 Verhaltensweisen bei entfremdeten Kindern definiert, von denen je nach Schwere der Entfremdung einige oder alle zutreffen.
Zu diesen Verhaltensweisen zählt zum Beispiel, dass das Kind reflexartig Partei ergreift für den ihn manipulierenden Elternteil oder dass es seine feindselige Ablehnung auf das gesamte Umfeld und die Familie des zurückgewiesenen Elternteils ausweitet. Ausführliche Informationen zu allen 8 Symptomen der Eltern-Kind-Entfremdung kannst du hier nachlesen.
Welche Folgen hat PAS für Kinder und Eltern?
Sowohl für das Kind als auch für das abgelehnte Elternteil kann eine andauernde Eltern-Kind-Entfremdung schwere Folgen haben. Langzeitstudien aus den USA haben nachgewiesen, dass Kinder, die ein Elternteil ablehnen, später unter Verlustängsten, Bindungsproblemen und Depressionen leiden können. Für den Vater oder die Mutter kann die Ablehnung durch das eigene Kind eine existenzielle Lebenskrise bedeuten.
Wie kann man eine Entfremdung verhindern?
Es gibt Faktoren, mit denen sich eine anbahnende Eltern-Kind-Entfremdung schon früh verhindern lässt. Mutter und Vater müssen versuchen nach einer Trennung die Paar- von der Elternebene zu trennen und die (gemeinsame) Betreuung des Kindes in den Mittelpunkt ihrer Beziehung stellen. Ein wertschätzender Umgang miteinander sollte selbstverständlich sein.
Wenn das Kind eine gute und offene Beziehung zu beiden Eltern hat und offen über alles mit ihnen reden kann, bleibt ihm ein Loyalitätskonflikt erspart. Auch ein guter Kontakt zur übrigen Verwandtschaft, z.B. zu den Großeltern, kann dabei helfen, dass sich Kinder nicht auf ein Elternteil fixieren und das andere ablehnen.
Aktives Warten: Gegenstrategien zur Überwindung
Wenn einen das eigene Kind ablehnt, bedeutet das nicht, dass seine Liebe erloschen ist. Eine Möglichkeit, trotzdem in Kontakt zu bleiben, nennt sich „aktives Warten“.
Durch kleine Gesten und Botschaften kann das Elternteil, zu dem das Kind gerade keinen Kontakt haben möchte, Offenheit vermitteln. Diese sollten nicht übermäßig emotional sein, aber vermitteln, dass die eigene Tür immer offen steht. Auch Geschenke zum Geburtstag oder zu Weihnachten sind wichtig. Das kann zehrend sein, vor allem wenn diese unbeantwortet bleiben oder Abwehrreaktionen hervorrufen.
„Aktives Warten ist eine Herausforderung. Es ist wichtig, sich dabei nicht von Wut, Angst, Enttäuschung, Trauer, Ohnmacht leiten zu lassen. Es braucht vielmehr Ruhe, Gelassenheit, Beharrlichkeit und Übung, sich in das betroffene Kind einzufühlen“, erklärt der Väteraufbruch für Kinder e.V..
Das aktive Warten sollte dabei aber nicht den Versuch ersetzen, über das Jugendamt oder Gerichte den Kontakt zum Kind wieder zu erlangen – sondern eine Ergänzung darstellen.
Der Kampf um ein entfremdetes Kind kann ein langer sein, den kein Elternteil alleine ausfechten sollte. Es ist auf jeden Fall empfehlenswert, sich bei einer Eltern- oder Jugendberatungsstelle Hilfe zu holen. Auch das Jugendamt ist eine wichtige Anlaufstelle. Ein Familienanwalt kann über Pflichten und Rechte aufklären und auch helfen, eine mögliche Einigung mit dem anderen Elternteil zu erzielen und auf eine Entspannung der Lage hinzuwirken.