Mehr als zwei Kinder erhöhen das Armutsrisiko

vonConnie Gräf-Adams | freie Autorin
Drei Kinder sitzen nebeneinander
© Unsplash / Charlein Gracia

Die enormen Preissteigerungen der letzten Monate machen uns allen ziemlich zu schaffen. Besonders dramatisch ist die finanzielle Situation in Deutschland laut der Studie „Mehrkindfamilien gerecht werden“, die unlängst von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlicht wurde, für Familien mit mehr als zwei Kindern.

Einkommensarme Familien in allen deutschen Bundesländern

Kinder mit mindestens zwei Geschwistern sind der aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge besonders häufig von Kinderarmut betroffen. Insgesamt 1,3 Millionen Familien mit drei oder mehr Kindern gibt es in Deutschland, das ist etwa jede sechste Familie. Basierend auf den Daten des Statistischen Bundesamtes gilt knapp ein Drittel dieser Mehrkindfamilien (31,6 Prozent) als einkommensarm, fast 18 Prozent beziehen Sozialleistungen. Bei alleinerziehenden Familien ist die Einkommenssituation noch schwieriger: Mehr als 86 Prozent sind auf finanzielle Unterstützung angewiesen.

Betroffen sind von Armut Mehrkindfamilien in allen Bundesländern: Bezogen auf Paarfamilien am häufigsten in Bremen (63 Prozent), die niedrigste Armutsgefährdungsquote verzeichnet Bayern mit 22 Prozent. Bei alleinerziehenden Familien liegt die Quote deutschlandweit im Schnitt bei knapp 42 Prozent.

Wer gilt in Deutschland als arm?

Hat man weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in seinem Land zur Verfügung, gilt das in der EU als armutsgefährdet oder arm. Konkret bedeutet das für Deutschland, dass einer Paarfamilie mit zwei Kindern unter 14 Jahren vom Einkommen nach Abzug von Steuern und Sozialbeiträgen weniger als 2.410 Euro übrig bleiben. Bei Alleinerziehenden mit einem Kind liegt die Grenze bei 1.492 Euro.

Keine Frage des Bildungsstands

Die Studie der Bertelsmann-Stiftung räumt mit dem weit verbreiteten Klischee auf, dass in einkommensarmen Familien ein niedriges Bildungsniveau herrsche. Die Datenbasis belegt, dass etwa 70 Prozent der Mütter von drei oder mehr Kindern gut bis sehr gut ausgebildet sind.

Stattdessen besteht die Herausforderung für Mehrkindfamilien darin, Beruf und Kindererziehung unter einen Hut zu bekommen. Die Betreuung von drei oder mehr Kindern nimmt viel Zeit in Anspruch. In erster Linie sind es die Mütter, die diese Aufgabe übernehmen, deshalb beruflich zurückstecken und allenfalls in Teilzeit oder mit Aushilfsjobs etwas dazuverdienen können.

Wie wirkt sich die schwache finanzielle Situation auf betroffene Kinder aus?

Kinder aus einkommensarmen Familien müssen auf viele Dinge verzichten, die in Deutschland zum allgemeinen Lebensstandard gehören: Oftmals fehlt aufgrund der beengten Wohnverhältnisse ein Rückzugsort oder ruhiger Platz zum Lernen, es gibt seltener einen Computer mit Internet oder neue Kleidung. Sie haben kaum Geld für Unternehmungen mit Freunden und können häufig nicht an Klassenfahrten oder Ausflügen teilnehmen.

Aufgrund dieser Einschränkungen fühlen sich viele Kinder und Jugendliche unsicher und leiden unter psychischen und sozialen Belastungen. Sie werden häufig gehänselt oder erleben Gewalt und Ausgrenzung. Sie tendieren stärker als andere junge Menschen zu gesundheitsschädlichem Verhalten und sind öfter von gesundheitlichen Problemen betroffen.

Die Folgen von Kinderarmut ziehen sich bis ins Erwachsenenalter

Weitreichende Konsequenzen können sich nicht nur auf sozialer und gesundheitlicher Ebene bemerkbar machen. „Menschen, die in der Kindheit oder Jugend von Armut betroffen waren, erreichen im Durchschnitt schlechtere Bildungsabschlüsse und haben schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt,“ sagt Dr. Irina Volf vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt/Main in einem Interview mit der Deutschen Welle.

Um Bildungs- und Chancengleichheit zu erzielen, setzt sich die Armutsforscherin für eine frühzeitige Förderung von Kindern aus einkommensarmen Familien ein, wie sie beispielsweise im Gelsenkirchener Modellprojekt „Zukunft früh sichern“ (ZUSi) praktiziert wird. Kinderarmut sei „kein Versagen der Eltern“, betont sie und fordert politische Lösungen, „damit Eltern über ein Einkommen verfügen, das Kindern ein Aufwachsen im Wohlergehen ermöglicht“.

Forderung nach gezielter Armutsbekämpfung

Die Tatsache, dass in Deutschland etwa jedes fünfte Kind (20,8 Prozent) als armutsgefährdet gilt, ruft auch zahlreiche soziale Institutionen auf den Plan. In einem breiten Bündnis haben sich mehr als 50 Organisationen – darunter das Kinderhilfswerk, Save the Children, Caritas und Arbeiterwohlfahrt – zusammengeschlossen und sich mit der gemeinsamen Erklärung zum „Ratschlag Kinderarmut 2022“ an die Politik gewandt. In dem Appell wird unter anderem eine zügige Umsetzung der Kindergrundsicherung und eine bedarfsgerechte soziale Infrastruktur gefordert, die alle Kinder und Jugendliche in Deutschland dazu befähigt, ihre Talente und Potentiale zu entwickeln.

Quellen und weiterführende Informationen