Eile mit Weile – Willkommen bei den Schneckenkindern

Mädchen schaukelt
Eile verträgt sich nicht mit einem echten Schneckenkind
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Von Haus aus bin ich ungeduldig. Ich scheine das im Alltag gut zu verstecken, denn Kollegen und Bekannte sind bei diesem Eingeständnis von mir stets überrascht. Seitdem ich Kinder habe, darf ich meine Techniken weiter perfektionieren. Denn bei dem geringsten Anzeichen von Stress gehen Schneckenkinder quasi rückwärts.

Wunderbare Hauseingänge

Unser erster Sohn hatte eine besondere Vorliebe für Hauseingänge. Vor allem die Hauseingänge von anderen Menschen weckten sein Interesse. Da wir in einer charmanten Straße mit vielen kleinen Reihenhäuschen wohnten, hatte das gewisse Nachteile. Aber es half alles nichts, jeden Morgen und jeden Nachmittag wurden die unterschiedlichen Hauseingänge begangen. Ich diskutierte, ich bat und ich verlor jedes Mal. Mein Kind musste in aller Ruhe die kleinen Stufen hinauf und wieder hinunter. Vielleicht auf der ein oder anderen Mauer entlangbalancieren und sich dabei Geschichten erzählen. Umso mehr ich zum Weitergehen bewegen wollte, desto mehr spannende Details entdeckte er vor Ort. Auch das Brüllen seines Bruders in der Trage konnte ihn übrigens nicht zum Weitergehen motivieren.

Wutanfälle einplanen?

Sohn 1 hatte eine intensive Phase mit Wutanfällen auf kürzesten Wegen im Alltag. Wer seine Alltagswege gerne schnell abhakt (und entsprechend plant), hat in dieser Phase nervlich verloren. Da Sohn 2 bereits vorgeschnallt war, lagen meine Nerven im Nu blank. Das stört in der Situation jedoch keineswegs, sondern hilft zu einer apokalyptischen Dynamik. Vorbeifahrende Rentner freuten sich so sehr über den Anblick meines auf dem Bürgersteig trommelnden Sohnes, dass sie sogar den Wagen kurz anhielten und sich angeregt in eigenen Erinnerungen verloren. Ich plante in der Zeit, leichte und transportfähige Campingstühle (vielleicht zum auf den Rücken schnallen?) zu entwerfen.

Viele bunte Autos

Mit zwei Kindern zu Fuß erwarteten mich am Morgen nur viele weitere Details, die erkundet werden mussten. Hatte der eine seine Vorliebe für Hauseingänge abgelegt, musste der andere jede Autofarbe benennen. Auch das dauert seine Zeit in kleinen Straßen mit vielen parkenden Anwohnern. Während ich die roten, blauen, silbernen und schwarzen Autos nicht Tag für Tag der Rede wert fand, sorgten die Farben für Begeisterung bei meinem Sohn. Auch hier brachten Erinnerungen an die Krippe, den Kindergarten oder ein schönes Buch zuhause auf dem Sofa nichts. Seitdem trage ich wärmere Schuhe und regenfeste Jacken. Auch wenn ich die meisten regenfesten Jacken noch immer hässlich finde – frieren finde ich noch hässlicher.

Löwen, Tiger und Oberteile

Sobald es daran ging, sich selbstständig anzuziehen, erreichten wir ein neues Level der Langsamkeit. Unsere Dialoge sahen in dieser Zeit ungefähr so aus: „Bitte zieh das Unterhemd an.“ „Ja ja. Mama, ist ein Tiger stärker als ein Löwe?“ „Hmm, das weiß ich nicht. Bitte das Unterhemd anziehen.“ „Jaaa. Aber was glaubst du denn?“ „Ich bin mir nicht sicher. Unterhemd bitte.“ „Bei glauben muss man nicht sicher sein, Mama. Das darf man sich so ausdenken.“ Zieht das Unterhemd an. „Ok, wenn das so ist, dann glaube ich, dass der Tiger stärker ist als er der Löwe. Bitte jetzt das Oberteil.“ „Ja, gleich. Aber warum ist für dich der Tiger denn jetzt stärker als der Löwe?“ Während wir uns so durch die einzelnen Bekleidungsschichten lavierten, hatte Sohn 2 mit Sicherheit eine volle Windel, eine schnodderige Nase oder viel Spielzeug auf dem Boden verteilt. An meinen Glückstagen hat er alles davon geschafft.

Der zweite Schuh muss auch dazu

Sohn 2 hatte es nicht so mit Fragen während des Anziehens. Umso mehr träumte er vor sich hin. Das kleine Kinder ein subjektives Zeitempfinden haben, ist mir an jedem Morgen mit Sohn 2 sehr bewusst geworden. Jeder Handgriff konnte bis in die Unendlichkeit gedehnt werden bei diesem ganz besonderen Schneckenjungen. Ein Oberteil wurde in mindestens fünf Etappen angezogen (über den Kopf – Pause – linker Arm – Pause – linke Hand raus – Pause – rechter Arm – Pause – rechte Hand raus). Die Socke wurde über jede Zehe einzeln geführt, noch einmal nachgezogen und zurechtgerückt und schließlich nach oben gerollt. Alles natürlich mit Pausen, in denen mein Sohn in anderen Welten schwebte. Die Freude war selten im Flur vorbei, wenn Tochter 1 bereits fertig verpackt in der Trage war und Sohn 2 gedankenverloren auf der Treppe saß. Sobald meine Stimme jedoch meinen Stress auch nur im Ansatz verriet, konnte – je nach Tagesform – Wut oder Weinen folgen und viele weitere Pausen. Oder bereits angezogene Kleidungsstücke flogen in alle möglichen Ecken davon. Und wirklich, dass ein zweiter Schuh notwendig ist, weiß ja jedes Kind. Dass das Anziehen von einem Schuh ohne Probleme zehn Minuten dauern kann, weiß aber nicht jede Mama. Und wehe, wirklich wehe, wenn ich wegen Zeitdruck der Versuchung nachgegeben habe, das Kind 2 rasch in die Jacke zu stecken. Nein, eine solch übertriebene Eile verträgt sich nicht mit einem echten Schneckenkind.

Morgens im Schneckenland

Nachdem Tochter 1 zweieinhalb Jahre in der Morgenroutine durch ihre fixe Art aufgefallen ist, ist sie nun im Schneckenland angekommen. Die wundersame Verwandlung zum Schneckenkind trat in dem Moment ein, in dem sie etwas selber anziehen sollte. Was sie vorher mit Freude versucht und oft genug stolz geschafft hat, dauert nun schneckenschöne Ewigkeiten. Allerdings stellt sie keine Fragen oder träumt sich davon – ihr fallen stattdessen viele Ideen ein. Der Morgen ist definitiv ihre kreativste Zeit. Vorm Kindergarten schnell zu Hause spielen, puzzeln, malen, kleben, lesen, … Dieses rasante Tempo friert vor meinen Augen ein, erwähne ich das Anziehen und Losgehen. Und es kommt auch nicht zurück, wenn sie sich anzieht. Sehnsuchtsvoll wird zum Tisch oder zu den Stiften geschaut, während der Pullover irgendwie am Hals hängt. Ich freue mich derweil über Sohn 1 und Sohn 2, die sich selbstständig und ganz ohne das Anmoderieren der einzelnen Kleidungsstücke anziehen und pünktlich das Haus Richtung Schule verlassen. Irgendwann wird auch Tochter 1 das Schneckenland verlassen, vermutlich wenn Tochter 2 hineingewachsen ist.