Mein Kind ist zu unselbständig – bin ich daran Schuld?

Vater bindet seinem Sohn die Schuhe
Wie selbständig müssen kleine Kinder sein? Die Frage beschäftigt viele Eltern
© Bigstock / Maria Sbytova

Eltern sollen ihren Kindern alles vermitteln, was sie für das Alltagsleben so brauchen. Das geht nicht von heute auf morgen. Aber wenn ich als Vater sehe, dass mein Kind im Vergleich zu Gleichaltrigen viel unselbständiger ist, macht mir das Sorgen: Bin ich daran Schuld?

Was muss ein Vorschulkind können?

Mein Sohn ist jetzt ein Vorschulkind und kann schon viele Dinge sehr gut. Zum Beispiel zählt er mindestens bis 50 und rechnet einfache Additionen im Kopf aus. Er kann auch seinen Namen halbwegs lesbar schreiben und bildet aus den fünf, sechs Buchstaben, die er kritzeln kann, tolle Fantasiewörter wie “pruppl” oder “mipi”. Manchmal erfindet er lustige Geschichten mit Fantasietieren und Monstertrucks.

Er verfügt über ein unglaubliches Wissen über Tiere und Dinos. Ist dieser oder jener Vogel in Deutschland heimisch? War der Velociraptor ein Fleisch- oder Pflanzenfresser? Mein Sohn weiß die Antworten. Er könnte den ganzen Tag “Was ist Was?”-Hörspiele hören, ohne sich zu langweilen. Und weil er so ein außergewöhnliches Gedächtnis hat, kann er selbstverständlich auch die Songtexte von mindestens 20 Kinderliedern komplett und fehlerfrei nachsingen.

Mein Sohn: Geistesmensch statt Draufgänger

Aber es gibt eben auch Dinge, die er nicht kann. Müsste ich eine Liste bilden, würden mir da zum Beispiel einfallen:

  • Reißverschlüsse zumachen
  • Eine Gabel oder einen Buntstift korrekt halten
  • Formen ausmalen, ohne weit über den Rand zu kritzeln
  • Fahrrad fahren
  • Mit Kleber basteln oder einen Kreis so ausschneiden, dass man ihn als Kreis erkennt.

Das sind nun alles Dinge, die viele andere Kinder in seinem Alter schon können. Es ist offensichtlich, dass die Stärken meines Sohnes nicht im motorischen Bereich liegen, was sicherlich zum Teil angeboren ist (er hatte schon als Baby eine Hüftdysplasie).

Er ist eher ein Geistesmensch, und das ist für mich auch völlig in Ordnung so. Ich war selbst als Kind ganz gewiss kein Draufgänger, der auf Bäume geklettert ist.

Dummerweise ist es im Alltag vermutlich wichtiger, Fahrrad fahren oder mit Messer und Gabel essen zu können, als zu wissen, ob der Archaeopteryx in der Kreidezeit oder im Jura gelebt hat.

Hätten wir unserem Kind mehr zutrauen müssen?

Ich liebe meinen kleinen Mann natürlich so, wie er ist, und bin unendlich stolz auf sein Wissen und seine Kreativität. Dennoch plagt mich in letzter Zeit häufig der Gedanke, dass er einfach zu unselbständig für sein Alter ist. Und dass wir als Eltern daran Schuld sein könnten. Haben wir ihn zu sehr verhätschelt? Ihm zu viel abgenommen und zu wenig zugetraut? Ihn nicht genug eingebunden? Waren wir zu ängstlich?

Ich tappe hier in die größte Falle, in die man als Vater tappen kann: Die eigenen Kinder mit denen anderer Eltern zu vergleichen. Und trotzdem sehe ich, dass Gleichaltrige sich schon ganz selbstverständlich ihr eigenes Geschirr und Besteck aus dem Schrank holen, sich selbst ein Müsli einschenken, ohne die Milch über den ganzen Tisch zu verschütten oder völlig alleine Schuhe, Jacke und Mütze anziehen. Inklusive Reißverschluss zumachen.

Klar wird er das alles früher oder später auch können. Was mich beschäftigt, ist eher die Frage: Warum ist es für andere Kinder schon jetzt selbstverständlich und für ihn nicht? Da gibt es zwei Gründe: Erstens ist mein Sohn kein ehrgeiziges Kind, das alles selbst können will. Zweitens haben wir es aber auch nicht genug gefördert und eingefordert.

Selbstzweifel als Eltern: Unnötig und wenig hilfreich

Das ärgert mich, aber es bringt ja auch nichts, sich deswegen zu grämen. Eltern haben schon genug Sorgen und Nöte im Alltag, da sind Selbstzweifel ganz bestimmt nicht förderlich.

Für uns kann die Devise jetzt nur lauten: Die Probleme Punkt für Punkt abarbeiten. Am Ende profitieren schließlich alle: Mama und Papa, weil sie nicht mehr jeden Handgriff selbst erledigen müssen. Und Sohnemann, weil sein Selbstbewusstsein wächst, je mehr er selber kann.

Und dann ist endlich auch Schluss mit “Hätte, wäre, könnte” und dämlichen Selbstzweifeln. Es gibt schließlich wichtigeres als die Frage, welches Kind wann was konnte. Zum Beispiel, ob mein Sohn ein guter Mensch ist. Und da besteht für mich nicht der leiseste Zweifel.