Der Hirnforscher Gerald Hüther nennt Männer das biologisch schwache Geschlecht. Durch das nur einmal vorhandene X-Chromosom würden Gendefekte schlechter bis gar nicht ausgeglichen. Das Y-Chromosom enthalte wenig Informationen und das wichtige X-Chromosom haben Männer nur einmal. Dies mache männliche Embryonen anfälliger und führt häufiger zu Fehlgeburten.
Zudem – so folgert Hüther – mache es bei Jungen und später Männern besonderen Halt notwendig. Schaue man unter die Helden der Geschichte tauchten häufiger Männer auf. Das gleiche gelte jedoch für die gescheiterten Existenzen am Rande der Gesellschaft.
Kinder brauchen viel Halt und Liebe
Diesen letzten Schluss von einer biologischen Auffälligkeit hin zu einer besonderen Bedürftigkeit halte ich für gewagt. Generell glaube ich, dass alle Kinder viel Halt und Sicherheit benötigen und dies eine große Herausforderung für alle Eltern ist. Vor der Geburt unseres ersten Sohnes hatte ich wirklich große Ängste zu versagen.
Wie sollte ich einen kleinen Jungen gut auf seinem Start ins Leben begleiten, wenn ich über das Leben aus dieser Perspektive so wenig weiß? Für die ersten Monate stellte sich meine Unkenntnis als gar nicht relevant heraus. Getragen werden, kuscheln, trinken, in Sprache baden, wickeln, viel schlafen und viel Liebe – die Bedürfnisse von Babys sind simpel, wenn auch zeitlich anspruchsvoll.
Andere Welt auf dem Spielplatz
Als dann die Interaktion zwischen uns zunahm, fand ich nichts abwegig oder seltsam. Bis zum Krippenstart gab es keine Autos in unserem Haushalt, aber das erste Objekt der Begierde war: ein Feuerwehrauto. Baustellenbücher zogen ein und an jeder Baustelle beobachteten wir alles sehr eingängig. Ich lernte Planierraupen und Schaufelbagger als Begriffe kennen und staunte. Neben Autos gab es aber auch Glitzerschuhe und Nagellack.
Dann kamen die Erfahrungen auf den Spielplätzen und die Interaktion in den Gruppen. Höher, schneller, weiter, größer, stärker – diese Wörter fielen in unseren Alltag ein und sind bis heute nicht verschwunden. Gerangel, boxen, hauen, schubsen – schaute ich mich da um, fand ich die Mehrzahl der Jungen – meinen eingeschlossen – verhaltensauffällig. Waren sie natürlich für sich genommen nicht, aber mir war es fremd. Körperliche Auseinandersetzungen hatten in meinem Leben bis dahin keine Rolle gespielt.
Geschwisterstreitigkeiten
Mit unserem zweiten Sohn zogen wieder neue Facetten ein. Aber die Körperlichkeit blieb. Auseinandersetzungen der Brüder untereinander brachten mich in den ersten sechs/ sieben Jahren regelmäßig nahe an den Nervenzusammenbruch. Sie schenkten sich gar nichts und fanden immer einen Grund, dem anderen eine zu „verpulen“ (ein weiteres neues Wort für mich).
Regelmäßig fragte ich mich, was ich bloß falsch machte. Warum jeder unserer Tage aus einer langen Reihe von Streitigkeiten zu bestehen schien. Ich übersah, wie sehr die beiden aneinanderhingen. Wieviel Quatsch sie miteinander machten, der oft genug am Ende schief ging. – Sie streiten sich auch jetzt noch. Aber sie lachen vor allem miteinander. Bei allen Unterschieden in den Interessen und ihrem Wesen sind sie sich nah und wenn dafür die Streitigkeiten sein mussten, ist es gut. Ich würde meinem jüngeren Ich das nur manches Mal gerne sagen. Denn zeitweise habe ich mir große Sorgen gemacht.
Schwierigkeiten in frauendominierten Instanzen
Früher nahm ich es nicht ganz ernst, heute würde ich es bestätigen: Kindergarten und Grundschule sind schwierige Orte für Jungen. Es sind frauendominierte Instanzen und ich bin nicht die einzige Frau, die körperliche Auseinandersetzungen befremdlich findet. Ich finde bis heute nicht, dass Auseinandersetzungen körperlich geklärt werden müssen. Allerdings glaube ich, dass Jungen (und Mädchen) Ventile und nicht nur Stoppschilder brauchen. Das ist etwas, das in diesen ersten Instituten oft untergeht. Für viele Jungen ist die erste Erfahrung in den Bildungseinrichtungen mindestens spannungsgeladen.
Gespannt auf die Pubertät
Neben unserem Haus befindet sich eine Gesamtschule und ich schaue jetzt bereits anders auf diese Jungen als früher. Ich habe mehr Mitgefühl, denn das Ego-Gerangele unter Jungen ist bereits in der Grundschule und ohne Hormone hart. Da wird sich wenig geschenkt und Andersartigkeit teilweise rüde abgestraft.
Gleichzeitig stelle ich jedoch fest: Was ich früher nervig fand, bringt mich heute zum Lachen. Sehe ich einen Jugendlichen großspurig mitten auf der Kreuzung vom Beifahrersitz aussteigen und queenartig winkend bei Rot über die Ampel gehen, lache ich von Herzen. All die Unsicherheit, das hormongesteuerte Ego – das treibt seltsame Blüten und wird bei uns mit Sicherheit die ein oder andere Eskapade verursachen. Ich hoffe auf Mitgefühl, Humor und Beruhigungsmittel.
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Mehr Diversität gestatten
Auf dem Spielplatz, dem Kindergarten und dem Sportplatz zeigen sich interessante Eigenheiten. Der Vater, der den eigenen Sohn foult. Die Mutter, die dem Sohn erklärt, er müsse in die Vollen gehen und alles weghauen. Der Vater, der beruhigt ist, dass der zweijährige Sohn aus einer Verkleidungskiste die Rüstung und nicht das Ballettkostüm wählt.
Der Junge, der im Kindergarten zum anderen Jungen im Kleid sagt, seine Mutter habe ihm gesagt, so etwas dürften Jungen nicht anziehen. – Diversität ist bei Jungen ziemlich schwierig. Es ist die Enge im Kopf von uns Eltern, die es den nächsten Generationen erschwert. Bedingungslose Liebe ist nicht so einfach, aber ich glaube, es ist das Einzige, was im Miteinander funktioniert.