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Wie genormt müssen Kinder wirklich sein?

Kinder sitzen auf einem Steg
Zwischen Normzwang und Therapiewahnsinn
©Unsplash/Jordan Rowland

Müssen Kinder wirklich alle im selben Alter die selben Dinge können? Diese Frage stellt sich ein Beitrag, der auf Facebook gerade die Runde macht.

 „Das Kind ist 1 Jahr alt und kann noch nicht laufen?“

Die Verfasserin des Posts ist Nikola Leutgeb. Sie ist Heilpraktikerin und Körpertherapeutin und veröffentlichte ihren Beitrag auf ihrer Facebook-Seite „Zeit & Raum für Körper & Seele„.

Ihr Post verbreitet sich in den sozialen Netzwerken rasant. Der Post beschäftigt sich nämlich mit den standardisierten Entwicklungsnormen von Kindern und stellt die Frage in den Raum: Sind Kinder heute übertherapiert?

„Das Kind ist 1 Jahr alt und kann noch nicht laufen? Das Kind ist 5 und kann noch keine Schnürsenkel binden? Das Kind ist 9 und kann das 1×1 nicht flüssig…… usw. Wenn ich jetzt zwei 30jährige vergleichen würde, könnten die genau identisch das Gleiche?“

Weiter heißt es in dem Post: Erreiche man ein bestimmtes Alter werde es akzeptiert, dass nicht jeder in allen Bereichen gleich gut sei. Aber der Vierjährige, der noch keine „richtigen“ Menschen zeichnen könne, müsse mit Therapiestunden gefördert werden. Dass dieser Junge aber super sprechen und seine Gedanken teilen oder Kuchen backen könne, würde man nicht berücksichtigen.

❗❗❗❗❗Gesehen und geteilt ❗❗❗❗❗❗etwas zum nachdenken….Im Moment kommen viele Kinder in meiner Praxis, die…

Gepostet von Caro Linchän am Dienstag, 13. November 2018

Die traurige Schlussfolgerung der Verfasserin lautet daher: Dieser Vierjährige glaube dann, dass er dumm sei und gar nichts auf die Reihe bekommen würde, weil er ja falsch male und nicht wisse wie die Zahl 4 aussieht.

Kinder sind keine Treibhaustomaten

Häufig beobachten Eltern ihre Kinder gerade in den ersten Jahren mit Argusaugen. Sie vergleichen es mit anderen Kindern und geraten in Panik, wenn es in seiner geistigen, motorischen oder sozialen Entwicklung nicht so weit ist wie Gleichaltrige.

„Hinter dieser Panik verbirgt sich der Glaube, dass sich Kinder wie Treibhaustomaten alle gleich entwickeln. Dass es eine Norm gibt und dass alles, was die Norm nicht erfüllt, einen Krankheitswert hat“, schreibt Dr. med. Michael Hauch in seinem Buch „Kindheit ist keine Krankheit“. Durch diesen Normzwang stünden vor allem die Schwächen der Kinder im Fokus, so bekommen die Kinder – wenn natürlich auch ungewollt – ihre Defizite vor Augen gehalten. Laut Hauch würde dabei außer Acht gelassen, dass sich Kinder unterschiedlich schnell entwickeln und jedes Kind in seinem eigenen Tempo lernt.

U-Untersuchungen werden oft falsch interpretiert

Dabei sorgen gerade die U-Untersuchungen bei den Eltern für Schweißausbrüche: Kann mein Kind bestimmte Gegenstände greifen? Ist es nach Größentabelle nicht noch zu klein? Kann es schon 50 Worte sprechen? Dabei wird aber oft vergessen, dass es sich hier um Mittelwerte, um Richtwerte handelt, die außerdem oft falsch interpretiert werden. „Auch so etwas wie ‚didi‘, ‚wauwau‘ oder ‚bobo‘ ist ein Wort, wenn damit ein bestimmter Gegenstand oder eine Handlung gemeint ist“, beruhigt Dr. Elisabeth Wildegger-Lack vom Deutschen Bundesverband der Sprachtherapeuten gegenüber „baby-und-familie.de“.

Natürlich gibt es auch Kinder, bei denen eine Therapie durchaus sinnvoll und notwendig ist. Aber auch bei diesen Kindern müsse man vor der Illusion warnen, eine Therapie könne ein Kind reparieren und optimieren, erklärt Michael Hauch, Kinder- und Jugendarzt, der „Frankfurter Allgemeine“. Eine Therapie könne in einigen Fällen Kindern helfen, einen Entwicklungsrückstand aufzuholen, so der Kinderarzt weiter.

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