Zu groß für Verniedlichungen
Mein ältester Sohn ist gerade elf geworden. Das ist schon sehr groß und definitiv zu alt für lächerliche Spitznamen und Verniedlichungen.
Und hier scheitere ich in schöner Regelmäßigkeit an meinem eigenen Anspruch und der Gewohnheit … Denn das Verhältnis zu unseren Kindern definieren diese mit zunehmendem Alter über klare Grenzen, die wir als Eltern akzeptieren müssen.
Schatz 1 bis 4
Meine Kinder haben alle irgendeinen Spitznamen, sie sind Liebling, Schatz, Mucki oder bekommen Reime an ihre Namen herangehängt. Wobei Tochter 2 mit drei konsternierte, dass sie nicht mehr Schatz von mir genannt werden wolle. Schließlich wisse man in unserem Haus so nie, wen ich wirklich meine: Hund-Schatz oder Kind 1-4-Schatz. Ich wollte in dem Moment nicht kleinlaut darauf hinweisen, dass ich manches Mal in der Situation Schwierigkeiten habe, den konkreten Namen so schnell in den Untiefen meines Hirns zu finden. Weil ich älter werde und an manchen Tagen schlicht müde bin. Seitdem bin ich bemüht, weniger Schatz zu verwenden und mehr die Reim-Namen und Spitznamen, an denen ich hänge.
Küssender Bubi?
Meine Herkunftsfamilie war keine Spitz- oder Kosenamen-Familie. Lediglich meine jüngere Schwester übernahm irgendwann den Spitznamen, den eine Freundin für mich erdachte: Sassi. Dieser geistert seitdem herum und wird von dieser Freundin, ihrem Lebensgefährten und meiner jüngeren Schwester aktiv verwendet. Ich musste mich von diesem Namen jedoch nicht emanzipieren. Lediglich einen Ex-Freund musste ich bei einem klärenden Gespräch nach der Trennung darauf hinweisen, dass das nicht mehr seine Anrede für mich sein kann. Mit meinen Eltern hatte ich das nicht. Dort war ich immer Saskia.
Im Freundeskreis meiner Eltern gab es hingegen eine Mutter, die ihren Sohn Sebastian Bubi nannte. Und ihm Küsschen in der Öffentlichkeit gab und darüber in der Öffentlichkeit sprach, dass sie und ihr Bubi am Morgen geküsst hätten. Das hat mich als Halb-Norddeutsche doch eher verstört. Sowohl der Name als auch das Küssen und das darüber sprechen. So wollte ich als Mutter auf gar keinen Fall sein.
Macht der Gewohnheit
Wenn ich Sohn 1 vorstelle, rutscht mir dann aber durchaus die Verniedlichung seines Namens heraus. Ich merke es und sehe seinen Blick. Er ist gottseidank souverän genug, dass er mich mit seinem richtigen Namen korrigiert und damit für jeden anderen klarstellt: So möchte ich nicht angesprochen werden. Innerlich bin ich stolz auf meinen Sohn, dass er da klar und freundlich darauf hinweist. Für mich schäme ich mich etwas und denke mit innerem Schütteln an die Bubi-Mami. Nun küsse ich meinen Sohn nicht in der Öffentlichkeit und zuppele an ihm auch nicht herum oder korrigiere seine Kleidung, aber ich möchte auch die Grenze mit seinem Namen respektieren und ärgere mich über die Macht der Gewohnheit bei mir.
Grenzen respektieren
Für mich fühlt sich der Spitzname so natürlich an, weil er es die letzten zehn Jahre im täglichen Umgang mit meinem Sohn für mich war. Jetzt muss ich akzeptieren, dass das vorbei ist und er diesen Namen für sich nicht mag. Weil er zu niedlich klingt und er sich anders sieht. Und das ist sein gutes Recht und gesund so. Es ist nicht meine Aufgabe als Mutter ihn zu definieren. Der niedliche Spitzname tut es aber noch in einer Weise, die für ihn nicht passt. Das fällt mir schwer und ich hoffe, mein Sohn sieht es mir ein bisschen nach. Mich korrigiert er auch nicht, wenn es mir unter uns herausrutscht (was immerhin seltener wird). Für diese Toleranz bin ich ihm dankbar, aber an mir arbeiten möchte ich trotzdem. Schließlich kann ich den Kindern nicht predigen, wie wichtig es ist, die Grenzen anderer zu akzeptieren, wenn ich es bei ihnen nicht so ganz genau damit nehme.
„Familien-Name“
Generell sind meine Kinder erstaunlich klar im Umgang mit anderen Menschen und wie sie von ihnen angesprochen werden möchten. So wechselte Sohn 2 mit vier den Kindergarten. Da ein anderes Kind einen ähnlichen Namen hatte, wollte die Erzieherin ihn gerne mit seiner Kurzform ansprechen. Was tatsächlich in der Familie auch die übliche Anrede von ihm ist. Aber Sohn 2 sagte sehr klar, nein, so solle die für ihn zu diesem Zeitpunkt ja noch fremde Erzieherin ihn nicht nennen. Das sei sein „Familien-Name“. Die Erzieherin hat sich über diese Grenze des Vierjährigen geärgert und sich bei mir noch einmal rückversichert, ob das nicht vielleicht der Einfachheit halber anders ginge. Aber nein, das ist sein Name und seine Grenze und es ist definitiv nicht meine Aufgabe, einem anderen Erwachsenen über den Kopf meines Sohnes hinweg die Erlaubnis zu geben, über diese Grenze hinüberzureden. Bis heute wird er in seiner Klasse von niemandem mit seinem Familienspitznamen angesprochen.
Raum für Entwicklung
Eines der spannenden Geschenke von Elternschaft ist für mich, diesen Persönlichkeiten aus nächster Nähe zuzuschauen, wie sie sich entdecken und entwickeln und ihnen hierfür den notwendigen Raum zu geben. Manches Mal bedeutet das offensichtlich, dass ich mir auf die Zunge beiße und Namensformen aus meinem Wortschatz streiche. Denn Menschen und Beziehungen sind lebendig und ändern sich. Auch wenn die Rose ja immer die Rose bleibt.