Für Familien ist schon viel passiert? – Was mich an Lindners Aussage ärgert und warum die nicht nur Familien betrifft

Symbolbild: Mama ist wütend
Bereits viel passiert? Dass ich nicht lache!
© Pexels / Liza Summer

Mama Saskia stört sich regelmäßig an den Aussagen von Finanzminister Christian Lindner. Bei seiner Behauptung, dass für Familien ja schon viel passiert sei, platze ihr dann endgültig der Kragen. Was sie daran so ärgert und wie sie als Mama von vier Kindern die Zukunfts-Investitionen in die Hand nehmen würde, erzählt sie hier.

Herr Lindner, arbeiten sie doch mal in den betroffenen Bereichen

Er hat es wieder getan. Christian Lindner hat sich zu Kindern und Familien geäußert. Von Herzen würde ich ihm ehrliche Freunde oder gute Berater an die Seite wünschen, die ihm sagen, dass er sich zu diesem Thema durch vergangene Äußerungen (man denke an seine Vorstellungen zur Elternzeit) schon derart disqualifiziert hat, dass es für ihn und seine Partei besser sei, er würde den Mund halten. Wenn er sich weiter äußern möchte, würden ihm vielleicht ein paar unbezahlte Praktika in den betroffenen Bereichen (Jugendamt, Kindergarten, Schulen in all ihren Formen, Kinderkrankenhäuser, Familienberatungsstellen, …) helfen.

Denn so sehr Lindner es sich wünscht, das Problem ist nicht in den Familien allein zu lösen. Kinderarmut und der damit oft einhergehende erschwerte Zugang zu Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe sind ein strukturelles Problem in Deutschland. Will man das lösen, müsste man den betroffenen und professionell mit den Bereichen betrauten Menschen zuhören und Geld in die Hand nehmen, was sich erst langfristig und eher unsichtbar auszahlen wird.

Bereits viel passiert?

Es sei schon viel passiert, sagt Lindner und nennt die Kindergelderhöhung. Es greift jedoch zu kurz, wenn Lindner meint, die Erhöhung des Kindergeldes würde Kinderarmut effektiv bekämpfen. Kindergrundsicherung bedeutet nach meinem Verständnis auch gar nicht, Geld auf die Familien zu verteilen. Es bedeutet vor allem: Geld für familienfreundliche Infrastruktur in die Hand zu nehmen. Damit Kinder geschützt sind, müssen die Rahmenbedingungen verbessert werden. Und nein, hier sind nicht ausschließlich Kinder betroffen, deren Eltern die Sprache noch lernen müssen. Das ist eine populistische Äußerung, bei der sich Lindner überlegen muss, wen er sich an die Seite holen möchte.

Kinderarmut wirkt sich in verschiedenen Bereichen aus: schlechtere Ernährung, höherer Stress, weniger gesellschaftliche Teilhabe, mangelnde Unterstützung und Schwierigkeiten in allen Entwicklungsbereichen als Folge der Probleme im Umfeld.

Arbeitsmarkt als Stellschraube

Am Arbeitsmarkt anzusetzen, finde ich generell gut. Eine Integration in den Arbeitsmarkt – ein guter Ansatz von Lindner – ist nur möglich, wenn die Betreuung der Kinder gewährt ist. Familie lässt sich in Deutschland noch immer ausschließlich mit privilegierten Arbeitsplätzen (und privater familiärer Unterstützung) halbwegs vereinen.

Und ja, um Kinderarmut zu bekämpfen muss auch bei den Eltern angesetzt werden und Arbeits- und Perspektivlosigkeit effektiv bekämpft werden. Allerdings sind all das langwierige Prozesse und Kinder wachsen leider kontinuierlich. Hierfür brauchen sie jetzt ein entsprechendes Umfeld.

Ein entscheidender Faktor ist dabei die Bildungslandschaft in Deutschland. Für den Zugang zum Arbeitsmarkt dieser Kinder ist diese nämlich ausschlaggebend und in Deutschland ausbaufähig. Familien profitieren in vielerlei Hinsicht von einem sicheren Betreuungs- und Bildungssystem. Zum einen können Eltern nur dann arbeiten oder sich weiterbilden, wenn die Kinder betreut sind. Und Kinder können sich dann positiv entwickeln, wenn die Qualität der Betreuung stimmt.

: Sind Familie und Job überhaupt vereinbar?

Bildungslandschaft ehrlich anschauen

Wenn jedes fünfte Kind in einem reichen Land wie Deutschland die Grundschule ohne sichere Lesekenntnisse verlässt, ist statistisch klar erfasst, dass es keine gute Leistung des Bildungssystems ist und dringender Änderungsbedarf besteht. Wenn 2024 mit einer Rekordeinnahme von einer Billion gerechnet wird und gleichzeitig jedes 5. Kind in Deutschland arm ist (und man hier jedoch bereits alle Möglichkeiten ausgeschöpft habe), kann die Zukunftsprognose nur düster sein.

Es geht doch gar nicht nur um Kinderarmut, sondern um unsere gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Wer eine gesellschaftliche Spaltung aufhalten möchte, muss an der Wurzel ansetzen. Das sind die Kinder und ihre Integration in eine Gesellschaft mit demokratischen Werten und Zugang zu Bildung. Wir brauchen motivierte Menschen für diese Kinder, die sich nicht aufreiben müssen in einem Alltag, der an den Zielen vorbeigeht und in dem ihre Arbeit als nicht wertvoll angesehen wird.

Kindergärten endlich als wichtigen Teil der Bildungslandschaft begreifen

Die Kindergärten müssen endlich als das gesehen werden, was sie sind: Ein wichtiger Teil der Bildungslandschaft. Hier kommen Kinder an und beginnen sich die Welt ohne ihre Eltern zu erobern. Einige Kinder lernen hier die deutsche Sprache, kommen in Kontakt mit den ersten Büchern, lernen soziales Miteinander und werden motorisch gefördert. All das geht aber nur mit einem angepassten Personalschlüssel. Wer die Kindergärten als Aufbewahrungsplatz für Kinder sieht, verpasst eine entscheidende Chance, allen Kindern einen gesellschaftlichen Zugang zu geben.

Mit einem interdisziplinären Team wäre hier so viel mehr möglich: Physio- und Ergotherapeuten für die motorische Entwicklung, Kunsttherapeuten für die feinmotorische Entwicklung, Sprachlehrer für den Förderbedarf und die Erzieher als feste Bezugspersonen für die Kinder. Durch neue Angebote würden die Gruppen immer wieder kleiner sein und eine andere Arbeit mit allen Kindern wäre möglich. Kinder, die vielleicht im Elternhaus aus unterschiedlichen Gründen nicht die von ihnen benötigte Förderung erhalten, würden sie hier bekommen. Ein solcher Umbau wäre zu Beginn mit Sicherheit eine große Investition, aber langfristig würde der Kindergarten endlich als Chance für alle Kinder genutzt werden und könnte einen wichtigen Beitrag zur Integration beitragen – ohne, dass die Menschen, die hier arbeiten, sich aufreiben müssen.

Familien und ihre Bedürfnisse auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigen

Der Arbeitsmarkt in Deutschland orientiert sich noch immer primär an dem Lebenslauf eines weißen Mannes aus der Mittelschicht, der keine Care-Arbeit übernimmt. Wer sich in der Familie einbringt und seine Kinder mitversorgt, schafft in den ersten Lebensjahren keine 40-Stunden-Woche – außer indem er um die Kinder herumarbeitet und die Abendstunden für die Arbeit nutzt. Das setzt jedoch erneut eine Flexibilität bei der Arbeit voraus, die so nicht selbstverständlich ist. Andere Länder haben hier sogenannte Zeitkonten, bei denen Eltern die Arbeit zu einem späteren Zeitpunkt nachholen.

In anderen Ländern wird außerdem die 4-Tage Woche diskutiert. Wer Gleichberechtigung voranbringen möchte, muss an diese Arbeitsbedingungen, die ihr strukturell im Weg stehen herangehen. Ebenso muss an dieser Stelle der Wert der Arbeit diskutiert werden und vor allem über den mangelnden Wert von sozialen und pflegenden Berufen gesprochen werden. Ein Bereich, bei dem sich Lindner mit Sicherheit mit weiteren Äußerungen ins Aus schießt – denn auch das sind Bereiche, die ihren Wert nicht in Statistiken zeigen, ohne die eine Gesellschaft jedoch an humanem Wert und Lebensqualität verliert.