Eine Durchschnittsfamilie mit kleinem Extra
Vater, Mutter und zwei Kinder: Martina, ihr Mann Christian und ihre Töchter Louisa und Jolina sind eigentlich eine ziemlich durchschnittliche Familie. Doch Jolina wurde mit einem kleinen Extra geboren: drei statt zwei der 21er Chromosomen. Jolina hat das Down-Syndrom.
Oft wird die Chromosomenabweichung bereits während der Schwangerschaft festgestellt. Bei Jolina war die Geschichte etwas anders. „Sagen wir so, ich habe es nach der Geburt selbst diagnostiziert“, erklärt Martina. Im letzten Drittel ihrer Schwangerschaft musste Martina wegen einer Ringelrötelninfektion im Krankenhaus engmaschig ärztlich überwacht werden. Der Chefarzt der Gynäkologie äußerte damals zum ersten Mal den Verdacht, dass Jolina Trisomie 21 haben könnte. Doch dem Verdacht wurde nicht weiter nachgegangen. Martina war dennoch „alarmiert und vorgewarnt“, wie sie es beschriebt.
Wenige Woche später kam Jolina zur Welt: vier Wochen früher als eigentlich vorgesehen war. Bei der Geburt gingen die Ärzte noch davon aus, dass Jolina ein ganz gesundes Baby sei. Doch Martina bestand auf eine genauere Untersuchung ihrer Tochter. Für sie war der Bluttest im Grunde nur noch Formsache, ihr Bauchgefühl sagte ihr bereits: Jolina hat das Down-Syndrom.
Hallo:Eltern: Wie ging es euch als Familie im ersten Moment mit dieser Diagnose?
Martina: Unsere große Tochter war damals erst drei Jahre alt – zu jung, um genau zu verstehen was los ist. Mein Mann war sofort verliebt in dieses kleine Wesen. Nur ich bin erst mal in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen. Heute weiß ich, dass Trauer in einer solchen Situation normal ist. Trotzdem bereue ich es bis heute, dass ich diese erste Zeit mit Jolina nicht unbeschwert genießen konnte, in der man nur verliebt in sein Baby ist.
Wie ging es danach für euch weiter?
Im Grunde war das Down-Syndrom für uns nichts Fremdes. Wir kannten eine Familie im Ort, die hatte einen Jungen mit Down-Syndrom im Alter unserer großen Tochter. Auch eine Kollegin und damalige Freundin von mir bekam einen Sohn mit Down-Syndrom. Damals waren wir total hilflos, wie man reagieren soll. Daher wusste ich, wie sich unser Umfeld fühlt. Wir haben Freunde und Familie an die Hand genommen und gezeigt, dass alles eigentlich normal ist. Und dann kam eine Welle der Freundlichkeit und Zugewandtheit, also total normales Verhalten bei der Geburt eines Babys. Das tat gut. Indem wir anderen die Hand reichten, halfen wir auch gleichzeitig uns selbst.

© Jolinas Welt/ Martina Seyler-Steil
Die erste Zeit mit Baby ist immer anstrengend. Was waren zusätzlich eure größten Herausforderungen mit Jolina?
Ich weiß nicht, ob es „die größten“ Herausforderungen gibt, die ich herausstellen könnte. Schwierig sind die vielen Kleinigkeiten, die zusammenkommen und man sich immer wieder neu organisieren und orientieren muss. Jolina war zum Beispiel sehr trinkschwach, konnte nicht gestillt werden und eine Mahlzeit dauerte zwischen 45-60 Minuten. So war ich die ersten sechs Monate gefühlt nur mit Abpumpen und Füttern beschäftigt – natürlich neben den ganzen anderen Dingen, die da auch noch waren. Das war ziemlich belastend.
Jolina wird bald 13 – seid ihr schon mitten in der Pubertät angekommen? Was sind aktuell eure größten Herausforderungen?
Ja, die Pubertät schlägt gerade total normal zu. Doch die Entwicklungsverzögerung ist trotzdem noch da. Vergleichbar ist das, wie wenn ein Mädchen mit sechs Jahren plötzlich in die Pubertät kommt. Das passt nicht zusammen. Die wirklich größte Herausforderung ist zurzeit, dass Jolina sich sprachlich nicht so mitteilen kann. Ein Mutter-Tochter-Gespräch, egal über welche Themen, ist schwierig.

© Jolinas Welt/ Martina Seyler-Steil
Worin unterscheidet sich euer Familienalltag von anderen Familien am meisten?
Ich glaube, die Unterschiede liegen darin, dass Jolina nicht in dem Maße selbständig ist wie Gleichaltrige. Wir stehen ihr doch noch öfter zur Seite. Es ist nicht so, dass Jolina etwas nicht könnte, und zu 99% läuft auch alles super. Nur dieses eine Prozent Ungewissheit macht uns Eltern manchmal etwas zu überfürsorglich. Viele Menschen mit Down-Syndrom können in ritualisierten Situationen sehr gut zurechtkommen. Doch wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, dann können sie oft nicht spontan richtig darauf reagieren. Es ist so, dass man selbst seinem Kind oft zu wenig zutraut und man auch Ängste hat, die andere Eltern gar nicht kennen.
Könnten nicht Kindergärten, Schulen und Fördereinrichtungen Eltern in vielen Situationen entlasten? Wie würdest du den Stand der Inklusion in Deutschland beurteilen – fortschrittlich oder rückständig?
Die Inklusion in Deutschland ist extrem rückständig. Der Wille ist vielleicht an manchen Stellen da, doch die Unterstützung fehlt. An anderen Stellen wird Inklusion verordnet und der Wille dazu fehlt. Inklusion muss wachsen, wir brauchen eine Generation, die Inklusion von klein auf kennt. Klar, das nützt Jolina nichts mehr, dabei wäre es so einfach gewesen. Anfangen müssen die Kindergärten und Grundschulen. Und dann muss es wachsen. Zudem ist Inklusion keine Einbahnstraße. Ich kann als Betroffener nicht nur von anderen fordern und erwarten, ich muss auch bereit sein, die anderen zu unterstützen und zeigen, was Inklusion erleichtert.
Was wünschst du dir konkret von anderen Familien?
Ich würde mir wünschen, sie würden aufhören, das Leben als Wettbewerb zu sehen.
Du gehst sehr offen mit Jolinas Chromosomenabweichung um. Gibt es etwas, das dich allgemein stört, wie über das Down-Syndrom gesprochen wird?
Ich finde die Berichterstattung gar nicht so übel und es wird immer mehr und auch besser. Auch das ist ein Prozess. Mich stört eher die Kritik aus den eigenen Reihen über diese Berichterstattungen, weil sie in den Augen von manchen „falsch“ formuliert oder ableistisch sind.
Gefühlt kann man es nicht richtig machen, weil es auch so viele verschiedene Meinungen gibt. Der eine mag den Begriff „behindert“ nicht, der andere besteht genau auf dieser Formulierung. Durch ständige Empörung erreicht man nach meiner Meinung eher das Gegenteil.
Wie geht es (noch) besser?
Mich stören Verallgemeinerungen. Was in Berichterstattungen unbedingt berücksichtigt werden müsste ist, dass es „das“ Down-Syndrom nicht gibt. Wirklich jeder Mensch mit Down-Syndrom ist anders. Es gibt zwar Häufungen, doch das betrifft eben nicht alle. Das größte Problem liegt nämlich darin, dass man denkt: „Kennst du einen, kennst du alle.“ Trisomie21 hält sich an keinen Plan, den man abhaken kann. Selbst Eltern die aufklären gehen oft von der eigenen Erfahrung aus und meinen andere Kinder mit Down-Syndrom wären dann schon so ähnlich wie das eigene Kind, das ist aber nicht so. Daher versuche ich immer nicht allgemein von Menschen mit Down-Syndrom zu sprechen, sondern ergänze Wörter wie „manche“, „viele“ oder „oft“, oder ich spreche eben nur von uns und ich wette auch mir gelingt das nicht immer, weil perfekt gibt es eben nicht.
Was rätst du anderen Eltern, die ein Kind mit Trisomie21 bekommen oder gerade bekommen haben?
Mehr Gelassenheit und Vertrauen. Weniger Perfektionismus und Egoismus.
Wir haben gelernt, dass ein entschleunigtes Leben viel besser und wertvoller ist. Das hat uns Jolina gelehrt. Man lernt, sich über kleine Dinge mehr zu freuen, als über die großen „Dinger“, die viel zu selten im Leben passieren. Auch im Jetzt zu leben hilft ungemein. Nichts im Leben ist planbar. Wir haben ein Kind, das sich nie an den Plan von Entwicklungstabellen gehalten hat. Wir haben gelernt, dass wir immer mit dem Unerwarteten rechnen müssen – ob Gut oder auch Schlecht. Und wenn das so ist, dann hilft es auch nicht dagegen anzukämpfen, oder mit dem Schicksal zu hadern. Alles hat auch seine guten Seiten, man muss sie nur sehen wollen. Manchmal erkennt man es auch erst nach längerer Zeit.
Martina, vielen Dank für das spannende Gespräch.
Hier kannst du dich über das Down-Syndrom informieren
Auf dem Blog „Jolinas Welt“ gibt Martina seit vielen Jahren einen Einblick in ihr Familienleben. Hier findest du auch allgemeine Infos & Tipps über das Leben mit dem Extra-Chromosom. Auf dem Instagram-Kanal @jolinaswelt mischt Jolina selbst mit und zeigt uns ihre Welt.