Als wäre das nicht bereits kompliziert genug, kommen die Kommentare und Bewertungen des nahen und nicht so nahen Umfeldes hinzu. Denn merke: Zu Kindern und Erziehung haben alle eine Meinung und am Ende ist immer Mutti schuld.
Die sich immer einmischende Umwelt
Als unser erster Sohn auf die Welt kam, sagte mir eine Frau in ihren Vierzigern mit vier Kindern: „Ich würde Ihnen jetzt so gerne etwas von meinem dicken Mutterfell abgeben. Nehmen Sie sich all das nicht zu Herzen.“ Bis heute warte ich auf das ganz dicke Mutterfell.
Fremdurteile gehen mir noch immer nah und ich merke manchmal, wie ich in öffentlichen Situationen mit meinen Kindern für die Öffentlichkeit agiere. Ich erkläre dann nicht mehr meiner Tochter, dass es keine Schokolade gibt, sondern ich erkläre das der neugierigen älteren Dame neben uns, die ihre kostbare Lebenszeit nur zu gerne mit dem Wutanfall meiner Tochter verbringt.
Auch unsere Mama Anja kennt es zu gut, dass sich Menschen aus dem Umfeld in die eigene Erziehung einmischen, oft komplett Fremde. Wie sie damit umgeht, dass Fremde ihrem Kind ungefragt Essen in die Hand drücken, erfährst du hier.
„Du armes Kind“
Überhaupt äußern alle meine Kinder bis hierhin lebhaft und gerne in der Öffentlichkeit ihren Unmut über die großen und kleinen Ungerechtigkeiten des Lebens beziehungsweise der Mutter. In 30 Prozent der Situationen gehen die Leute mit einem Grinsen vorbei. 20 Prozent der Menschen ziehen die Augenbrauen hoch und schütteln gerne dazu den Kopf. 10 Prozent schauen konzentriert auf ihr Smartphone und die anderen 40 Prozent beglücken uns mit hilfreichen Kommentaren. „Oh, du armes Kind, möchtest du gerne was Süßes haben und die Mami erlaubt es dir nicht?“ oder „Die dicken Kullertränen und da wird die Mami nicht weich?“
Sollte ich irgendwann einmal Langeweile haben, werde ich das Kommunikationsverhalten anderer Menschen im öffentlichen Raum coachen. Ich werde ganz ungefragt Menschen darum bitten, mehr auf ihren Partner zu achten, wenn sie schweigend nebeneinander hergehen. Oder im Café Tipps geben, wenn der eine den anderen nicht ausreden lässt oder nur von sich spricht. Vielleicht unterstütze ich auch Paare mit Tipps aus meiner langjährigen Einkaufserfahrung mit Partner in großen Möbelhäusern.
Diese Übergriffigkeit wird bei Erwachsenen nicht toleriert. Bei Eltern, die sich bereits in einer Stresssituation befinden, ist sie aber gesellschaftlich akzeptiert. Man meint es ja nur gut. Und es braucht doch ein Dorf, um ein Kind zu erziehen…
Ein Bauch für Alle
Rund um Schwangerschaft, Geburt und die ersten Lebenswochen insbesondere hätte ich mir mehr schweigende Menschen um mich gewünscht. Zumindest wenn sie nicht vorher darüber nachdenken, was sie eigentlich sagen. In der Schwangerschaft wird der Bauch mit einem Mal zum öffentlich zugänglichen Gelände, der von allen Seiten betastet und beurteilt werden darf
Situationen, die einmal mehr beweisen, dass Nicht-Eltern oft naiv und ahnungslos sein können.
Schnappatmung löste bei mir ab Kind 2 (spätestens) das Beurteilen des Bauchstandes durch nicht qualifizierte Laien aus: „Nee, das dauert noch.“ „Der Bauch hat sich noch nicht gesenkt.“ sind gesprächstechnisch auf einer Stufe mit „Das sieht aber nach Regen aus.“ Nur dass es eben nicht um den Himmel geht, sondern um den Bauch einer anderen Person. Vielleicht will die erwachsene und mündige zum Bauch gehörende Person nichts über ihren Bauch hören – vor allem etwas ohne jede Aussagekraft?
Die Psyche der Mutti
Im schwangeren Zustand war ich bei einigen größeren Feiern. Ältere Frauen erzählen bei der Gelegenheit gerne ihre Heldengeschichten rund um die Geburt. Die eine duschte noch tiefenentspannt mit Wehen, um die Menschen im Kreißsaal nicht geruchstechnisch zu belästigen. Die Nächste hat die Wehen einfach weggeatmet, weil sie da auch nicht so empfindlich ist. Eine andere Mutter erklärte mir, dass sich jedes Problem unter der Geburt auf die Psyche der Mutter zurückführen ließe.
Beim Stillen und generell der Ernährung der Kinder geht es dann weiter mit den Meinungen. Von auf jeden Fall stillen bis zum Ende des ersten Lebensjahres und das Kind bestimmen lassen, über eine feste Taktung, gehen die Meinungen auseinander. Dann geht es um Zuckerfreiheit, Fleisch oder nicht Fleisch, Milch oder nicht Milch und so weiter und so fort.
Ich finde wertfreien und neugierigen Austausch gut. Aber die meisten Menschen möchten bei Babys, Kindern und Erziehung nichts austauschen, sondern ihre „richtige“ Meinung „teilen“. Auf das die weniger erleuchteten (weil vielleicht gestressten oder leider etwas dummen) Eltern ihre „falschen“ Ansichten über Bord werfen und auf die pädagogisch sichere Seite wechseln.
Weniger gut meinen und mehr denken bitte
Die wohlmeinenden Menschen empfinden sich keineswegs als aggressiv. Denn sie meinen es stets nur gut. Ob sie davon sprechen, wie sie das Ding mit dem Kind geschaukelt haben, wenn eine völlig übernächtigte Mutter vor ihnen steht. Oder kluge Ratschläge haben, wenn die erste Trotzphase beginnt oder das erste Mal eine Beleidigung kommt. Zum Schnuller oder Nicht-Schnuller gibt es auch noch viele Gratis-Ideen.
Ungefragte Einführungen in gewaltfreie Kommunikation sind verbal übergriffig (und haben mit gewaltfreier Kommunikation nichts zu tun).
Es sind übrigens nicht nur die Menschen ohne Kinder, die viele Tipps haben und die Erziehung bravourös meistern. Auch andere Eltern fühlen sich durch Krisen bei anderen geradezu beflügelt, viel von ihrer Überlegenheit verbal zu zeigen. Empathisches Zuhören und Aushalten ist viel schwerer als die Hilflosigkeit zuzutexten. Erziehung ist immer ein Langzeitprojekt mit offenem Ausgang. Etwas mehr Empathie, Verständnis und Schweigen statt dummer Kommentare und Blicke würden für viele Eltern Wunder wirken.
Beim wohlmeinenden Rest hilft nur das dicke Fell.