Priorisierung rein nach wirtschaftlichen Faktoren
Wie in allen Krisen werden die wirtschaftlich Schwächeren zur Seite gedrängt. Wir leben zum Beispiel in einem gutbürgerlichen Stadtteil, in dem die meisten Menschen viel Stress und wenig existenzielle Sorgen haben. Bei uns in der Kindertagesstätte haben Kinder kaum eine Chance einen Betreuungsplatz aufgrund eines persönlichen Bedarfs zu bekommen.
Kinder mit besonderen Bedarfen gehen teilweise seit drei Monaten nicht mehr in den Kindergarten, weil ihre Eltern entweder nicht beide oder in den falschen Bereichen arbeiten. Kinder mit Entwicklungsverzögerungen oder Schwierigkeiten mit Deutsch besuchen keinen Kindergarten und „fallen“ hinter ihren Alterskameraden weiter zurück. Gerade im Vorschulbereich verlieren einige Kinder wichtige Zeit.
Dieses Problem wird je nach Standort unterschiedlich sein. In den wirtschaftlich stärkeren Gegenden gehen aktuell genug Kinder unter, weil es eben nicht um sie geht. Es geht um kurzfristige wirtschaftliche Interessen. Langfristig ist es für unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft nicht zu vertreten, dass einige Kinder und ihre Bedürfnisse derart ignoriert werden.
Homeoffice vereinbar mit kleinen Kindern
Bei uns haben Menschen, die im Homeoffice arbeiten, keinen Anspruch auf Betreuung der Kinder. Hier frage ich mich: Lagen die Entscheidungsträger während des letzten Lockdowns möglicherweise im Koma? Wie sonst kann jemand mit den Erfahrungen aus dem ersten Lockdown diese Entscheidung fällen?
Ich arbeite als Selbstständige immer von zuhause. Aber mit meinen zwei und vier Jahre alten Kindern im Haus muss ich den Laptop nicht anschalten. Einige Telefonate funktionieren bestimmt mit Kindern in diesem Alter zuhause, aber die Mehrzahl nicht. Zusammenhängende Sätze schreiben – das war das witzige Thema vieler Kolumnen des letzten Frühjahrs – funktioniert gar nicht.
Von meinen Grundschulkindern kann ich erwarten, dass sie einen Moment warten und sich zumindest halbwegs an abgesprochene Zeiten halten. Klappt das Zurücknehmen in dem Alter bei eigentlich gesunden Kindern nie, ist das möglicherweise eine wichtige Rückmeldung für uns als Eltern.
Aber Krippen- und Kindergartenkinder sind zu klein, als dass sich mit ihnen feste Arbeitszeiten planen ließen. Mit Glück schlafen sie lange und dieses Zeitfenster lässt sich nutzen. Aber ein bis drei Stunden am Morgen ersetzen selbst bei bester Organisation keinen ganzen Arbeitstag.
Notdienste legen Strukturen bloß
In einer aktuellen Umfrage unserer Elternvertretung meldeten viele Männer zurück, dass in ihren Beziehungen Konflikte zunähmen. Offensichtlich sind nach einem Jahr viele Frauen nicht mehr bereit, das ganze Paket zu tragen. Notdienste zeigen nämlich eins ganz deutlich: Gleichberechtigung besteht in vielen Familien in punkto Kinderbetreuung zwischen Müttern und Institutionen. Die Jobs der Väter haben bei Problemen Priorität.
Eine Mutter erklärte mir kürzlich, dass sie auf das Einkommen ihres Mannes nicht einmal teilweise verzichten könnten. Kinderkrankengeld ginge nicht bei ihrer ‚Haupteinnahmequelle‘. Plötzlich geht es wieder um diese Wertigkeiten: männliches Einkommen ist die Haupteinnahmequelle und das Einkommen der Frauen eine nette Ergänzung, der Luxusgroschen, das Taschengeld. Früher hätte ich gedacht, dass es dorthin zurückgeht. Aktuell würde ich eher sagen, dass es immer so gewesen ist. Der Ausbau von Kinderbetreuung verdeckt diese Denkweise lediglich. Behoben werden muss es an anderer Stelle.
Hierzu hätte ich gerne in der Zeit nach Corona Studien. Wer hat in den Familien die Notbetreuung der Kinder hauptsächlich übernommen? Wer springt ein bei den verkürzten Zeiten und den wegfallenden Tagen, Wochen und Monaten? Welche wirtschaftlichen Konsequenzen hat das für diesen Elternteil?
Corona und Familien
Slow Life in der Notbetreuung?
Auch in diesem Lockdown gibt es diese beschönigenden Texte über das Entschleunigen des Alltags. Dass diese Krise eine wertvolle Chance sei, in der man sich zurückbesinnen könne auf bestimmte Werte im Leben. Diesen Leuten empfehle ich eine Woche Slow Life mit einer deutschen Familie mit zwei oder mehr kleinen Kindern in einer Mietwohnung ohne Garten. In dieser Zeit dürfen sie dann bitte ihren Job nicht vernachlässigen, während sie parallel die Kinder versorgen.
Vereinzelt gibt es Stimmen, die sagen, Kinderbetreuung vor Kindergarten oder Einschulung müsse vollständig überdacht werden. Die Betreuungsinstitution sei für die Kinder schädigend und für das mütterliche Verhältnis zum Nachwuchs sowieso. Das wirft uns um Jahrzehnte zurück und ist eigentlich durch Studien widerlegt, die zeigen, wie wichtig der Kontakt zu gleichaltrigen Kindern ist. Dass all das die sichere Bindung zu Eltern nicht aufwiegt, versteht sich von selbst.
Vielleicht müssen die Betreuungszeiten überdacht werden, sowie die Arbeitszeitregelungen für Eltern von kleinen Kindern. Das wäre für mich ein echter Nutzen aus der Krise: Familienfreundliche Arbeitszeiten mit Verkürzungen bei Lohnausgleich in den ersten Lebensjahren der Kinder. Nur so wären halbe oder dreiviertel Stellen bei beiden Eltern und in unterschiedlichsten Berufen möglich.
Kinderfreundlich?
„Mami, Mama, Mamiiiiii“ – diese Rufe in schrillen Tonlagen lösen aktuell bei mir keine überbordende Freude aus. Trotz dessen bin ich sicher: Meine Kinder sind die beste Entscheidung meines Lebens. Mein Blick auf Deutschland und seine „Kinderfreundlichkeit“ wandelt sich während dieser Pandemie jedoch zunehmend. Unter starkem Druck kommt ungefiltert das raus, was drinsteckt. Gemeinschaftsgefühle, Großzügigkeit und Herzlichkeit sind das leider nur in Ausnahmefällen.