Warum regt sich keiner auf? – Sind Eltern zu unpolitisch?

Mama schreit durch ein Megaphone
Sollten wir uns mehr einbringen?
©pexels / Tima Miroshnichenko

Deutschland ist kein Land für Kinder und Familien. Diesen Satz höre ich seit meiner Kindheit und fand ihn früher albern. Heute denke ich, dass er leider stimmt. Familienfreundliche, zukunftsorientierte Politik scheint in Deutschland nicht zur reellen Agenda zu gehören. Aber warum regen wir uns darüber nicht viel mehr auf?

Unser (un)politischer Alltag

Es reicht bereits ein Blick in die meisten Städte: Die sogenannten Fußgängerzonen sind in vielen Städten eigentlich eine verkehrsberuhigte Zone für den Lieferverkehr. Mit dieser Lösung ist vermutlich auch der Lieferverkehr nicht glücklich, aber warum ändern, was lange funktioniert? – Fahrradwege sind im Innenstadtbereich oft unübersichtlich angelegt und zum Fahren mit Kindern nichts für schwache Nerven.

Fahrradanhänger sind als relativ junges Phänomen im deutschen Straßenverkehr in den Städten nicht berücksichtigt. Eltern können sich mit ihnen direkt besser in Menschen im Rollstuhl oder mit einem Rollator hineinversetzen – nur dass sie noch den Vorteil der eigenen Mobilität haben.

: Kinder im Kinderwagen

Wer mit einem Kind unterwegs ist, was gerade trocken wird, hat gleich noch andere Probleme in deutschen Innenstädten. – Aber statt Veränderungen einzufordern, bestellen wir Eltern online und meiden zum großen Teil Innenstädte. Wir ziehen aufs Land, weil der Wohnraum in vielen Städten für Familien unbezahlbar wird. Das ist eine individuelle Lösung, anstatt die Probleme zu ändern.

Vereinbarkeitslüge

Vereinbarkeit von Familie und Beruf schien mir immer selbstverständlich. Seit ich Kinder habe, weiß ich, was für ein riesiger Spagat das ist. Das soll kein Jammern sein und auch kein Bedauern einer Lebensentscheidung: Wer Kinder bekommt, muss bei sich gerade in den ersten Jahren Abstriche machen.

Der Rahmen für die eigenen Entscheidungen ist jedoch gesellschaftlich gemacht. Umso unflexiblere Arbeitsbedingungen und je geringer das Einkommen, desto weniger Entscheidungsmöglichkeiten haben die Eltern.

Wir könnten die Familienphase in die Erwerbsbiografie von Menschen mit einplanen. Ökonomen forschen dazu und Länder versuchen die „Vier-Tage-Woche“ in Modellversuchen, aber … am Ende bleiben wir doch lieber beim Bekannten.

Zwischen Zweifeln und Beschuldigungen

Wie auch immer sich Eltern in diesem Bereich entscheiden, sie werden immer be- und meistens verurteilt. Wer Vollzeit arbeitet, hätte das mit den Kindern bleiben lassen können. Wer Teilzeit arbeitet, will eigentlich gar nicht arbeiten und arbeitet eh nicht richtig.

Bleibt der Mann zu Hause, kann sich die Frau glücklich schätzen und ihm werden vermutlich bald Brüste wachsen. Diese Abwertungen gibt es gratis obendrauf zum Alltagsspagat, der die meisten Eltern sowieso in die Zweifelspirale führt: Mache ich das gut genug? Reicht es, was ich gebe? Schaue ich gut genug hin?

Betreuungssituation in Deutschland

Auch wenn Deutschland in den letzten Jahren aufgeholt hat, geben wir noch immer im europäischen Vergleich wenig aus für unsere Kinderbetreuung. Statt in die Qualität der Einrichtungen zu investieren, wurde das Geld aus der Initiative Gute-KiTa vielerorts in die Senkung oder Abschaffung der Gebühren gesteckt.

Nun finde ich aus Elternsicht keineswegs, dass Eltern einen Großteil ihres Einkommens für die Finanzierung einer staatlichen Institution aufbringen sollten. Aber je nach Familieneinkommen darf Betreuung etwas kosten. Und den Staat darf Bildung und Fürsorge definitiv etwas kosten.

Die Bertelsmann-Stiftung warnt in ihrer aktuellen Studie zur Betreuungssituation in Deutschland erneut vor dem Fachkräftemangel. Im Grunde darf der Betreuungsschlüssel trotz der wissenschaftlichen Empfehlung nicht gehoben werden.

Die Empfehlung liegt für den Krippenbereich bei 3 Kinder pro Erzieher*in und im Kindergarten bei 7,5 Kinder pro Erzieher*in. Die Lücke beträgt aktuell 230.000 Erzieher*innen. Solange CARE-Arbeit zu gering bezahlt, die Arbeitsbedingungen ausbeuterisch sind und zusätzlich die Leistung gesellschaftlich nicht anerkannt wird, möchten viele Menschen den Job nicht machen.

Corona und Bildungslandschaft

In den Schulen geht es direkt weiter. Leider gibt es noch immer keinen vollständigen Plan für die Digitalisierung der Schule. Der Lockdown hat ebenso verdeutlicht, was zuvor angemahnt wurde: In Deutschland entscheidet zu einem großen Teil die Herkunft über den schulischen Erfolg.

Wenn Mama und Papa entsprechend unterstützen, kommt das Kind durch jede Krise. Bröckelt diese Unterstützung oder ist sie aus verschiedenen Gründen generell nicht möglich, gibt es kaum Hilfen.

Ab 2026 gibt es einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung bei Grundschulkindern – auch hier wird das ausgebildete Personal fehlen. In meiner Grundschulklasse waren 31 Kinder und unser Tag endete spätestens um 12.20 Uhr. Wenn der Anspruch lautet: Kein Frontalunterricht, Inklusion, individuelle Förderung und Ganztag können nicht einfach 7 bis 10 Kinder aus der Klasse genommen werden und dann läuft das. Schulen brauchen mehr Geld und mehr Personal, um anders arbeiten zu können.

Ein Großteil der Eltern durchläuft jedoch auch die Schulzeit der Kinder frei nach dem Motto: Nach mir die Sintflut oder reibt sich in den Konflikten mit einzelnen Lehrer*innen auf. Engagierte und empathische Lehrer*innen sind eine wichtige Grundlage, die leider auch keine Selbstverständlichkeit ist. Aber während man einzelne Menschen nicht ändern kann, lassen sich Systeme mit Druck durchaus und nachhaltig verändern.

Zwölf Millionen Familien – vierundzwanzig Millionen Einzelmeinungen

In Deutschland gibt es fast zwölf Millionen Familien. Das bedeutet, dass viele der 83,02 Millionen Menschen in Deutschland in einer Familie leben. Aber statt uns auf große Gemeinsamkeiten zu verständigen, streiten wir uns in den Details. In den Beiräten der unterschiedlichen Einrichtungen erlebe ich das leider immer wieder:

Die großen gemeinsamen Ziele werden über Kleinigkeiten vergessen. Und am Ende verändert sich nichts. Es bringt nichts, wenn wir uns individuelle Lösungen für strukturelle Probleme überlegen und uns darin jeder einzeln mehr oder weniger aufreibt.

Wir müssen auf Missstände hinweisen und Lösungen laut einfordern. Das Zerfleischen untereinander muss bei den Eltern aufhören. Erinnern wir uns lieber an das, was wir uns gemeinsam wünschen: Ein lebenswertes Land für unsere Kinder.