Sorge um die „Norm“
Langsam nähere ich mich dem Alter meiner Kinder, bei dem die regelmäßigen U-Untersuchungen wegfallen. Und ich schaue mit ein bisschen Dankbarkeit und viel Erleichterung zurück. Denn auch wenn ich das nie wollte, ein bisschen haben mich diese Tabellen und all die Kurven doch gestresst.
Mich haben die Bücher von Remo Largo ins Elternsein begleitet. Mit der Mischung aus fachlichem Wissen über die Entwicklungsschritte und den beruhigenden Äußerungen über die Individualität habe ich mich gut abgeholt gefühlt in all meinen Unsicherheiten und Ängsten. Aber dann kamen die U-Untersuchungen und plötzlich wurden die Kinder doch eingeteilt und ab einem gewissen Punkt sollte ich mir bitte schon Sorgen machen, wenn etwas nicht der Norm entsprach.
Effektive Kontrolle?
Generell finde ich es richtig, dass auch die Entwicklung von Kindern geschaut wird und hier regelmäßige Kontrollen stattfinden. Ich verstehe, dass das für einige Kinder die Chance ist, gesehen zu werden und ihnen so geholfen werden kann. Daher habe ich mich auch nie geärgert, wenn der gegengezeichnete Schnipsel von der Praxis nicht beim Amt angekommen war und ich noch einmal nachhaken musste, weil ich freundliche Erinnerungen bekam. Da sie im Übrigen immer beim gleichen Kind verschwanden, wirkte es für das Amt offensichtlich beim vierten Mal auch etwas komisch.
An dieser Stelle wird Eltern oft mit Skepsis begegnet und das kann ich verstehen, weil mir die hohe Dunkelziffer von häuslicher Gewalt gegenüber Kindern bewusst ist. Gleichzeitig führt das aber auch dazu, dass diese Situationen eher unsichere Eltern zusätzlich verunsichern kann. Nicht, weil diese in irgendeiner Form ihren Kindern gegenüber gewalttätig wären, sondern weil sie sich sowieso um die Entwicklung Sorgen machen.
Was wollen U-Untersuchungen?
U-Untersuchungen sind bestimmt ein richtiger Schritt in die Richtung, dass wir genauer hinschauen und Kinder gesehen werden. Allerdings glaube ich, dass es bessere Möglichkeiten gäbe. Denn was wollen U-Untersuchungen? Auf der einen Seite die physische Entwicklung der Kinder dokumentieren (messen, wiegen). Zusätzlich kommt die Kontrolle der Unversehrtheit der Kinder hinzu. Die Interaktion zwischen Kindern und Eltern wird beobachtet und dann noch die motorische Entwicklung des Kindes. Bei diesen komplexeren Themen finde ich Momentaufnahmen auch für Experten schwierig. Zusätzlich konnte ich über die letzten Jahre beobachten, dass die Praxen viel voller sind und mehr schaffen müssen als zuvor.
Es wird komplexer
Bei den ganz Kleinen fand ich das Messen und Wiegen immer beruhigend. Da sie motorisch alle im Rahmen waren, hat mich auch dieser Teil nicht gestresst. Aber dann ging es los mit dem Spracherwerb, bei dem – nach medizinischem Standard – ein Kind von uns verzögert war. Es hat sich lange mit eigenen, sehr wenigen Wörtern ausgedrückt.
Vom Umfeld hörte ich sowieso: „Du darfst die Flasche dann nicht geben. Du sprichst das richtige Wort noch einmal vor und nur wenn dein Kind es sagt, bekommt es die Flasche.“ – Das hat mich nicht überzeugt und das Kind hat heute einen sehr großen Wortschatz. Es redet aber nach wie vor nicht mit jedem Menschen gleichviel. Andere Kinder verstummen bei den U-Untersuchungen vollständig unabhängig von ihrem sonstigen Mitteilungsbedürfnis.
Dann kam das Malen bei den U-Untersuchungen. Einige meiner Kinder malen nur bedingt gerne und garantiert nicht dann, wenn sie es sollen, und nicht das, was andere von ihnen wollen. Tochter 1 malte so einfach eine Sonne statt eines Menschen und schrieb ihren Namen. Die Arzthelferin gab sich damit zum Glück zufrieden. Beim Sehtest haben sich bei zwei Kindern Auffälligkeiten gezeigt, die sich anschließend beim Augenarzt nicht bestätigt haben.
: Von Baby bis Schulkind
Alternativen denken
Ja, manchmal bin ich von den U-Untersuchungen genervt gewesen. Wenn sie mir den Rest eines Rhythmus mit drei Kindern unter vier Jahren beziehungsweise dann vier Kindern unter 6 Jahren zerhauen haben. Oder wenn sie Termine zur Folge hatten, die bei uns ohne Ergebnis geblieben sind, und auch immer mit Aufwand und Organisation verbunden waren. Hier jammere ich als Stadtmutter mit den meisten Fachärzten mindestens im angrenzenden Stadtteil vermutlich noch auf hohem Niveau.
Ich würde mir ein flexibleres System wünschen, was sensibel hinschaut und gleichzeitig Eltern Kompetenz zutraut hinsichtlich der Entwicklung ihrer Kinder. Wenn genauer hingeschaut würde, wäre es vielleicht auch möglich den Kindern mit Bedarf mehr Zeit zu schenken. Warum beispielsweise nicht ein Elterntraining von Medizinern und Experten für kindliche Entwicklung anbieten, was die Kompetenzen und das Vertrauen bei Eltern stärkt? Ehrlicherweise hätte mir das an vielen Stellen mehr gebracht und vor allem Vertrauen und damit mehr Ruhe im Alltag geschenkt.
Fachkräfte im Kindergarten
Wunderbar wäre es, wenn Fachkräfte mit einem besonderen Blick für ihre Entwicklung und der Zeit für sie da sind, wo die Kinder sind. Wenn der Betreuungsschlüssel in der Krippe und im Kindergarten angehoben würde und dort neue Stellen wären, die spezialisiert wären für die Entwicklungen wie beispielsweise sprachliche oder motorische Entwicklung und in der Richtung das Angebot im Kindergarten weiterentwickeln würden. Denn natürlich geschieht hier vieles im Alltag und jeder Erzieherin ist ein allgemeiner Entwicklungsexperte, aber durch den Betreuungsschlüssel, die vielen Ausfälle und weitere Besonderheiten im Alltag bleibt für einiges keine Zeit. Aber im Alltag der Kinder wäre doch eine viel bessere Möglichkeit, Förderbedarf zu sehen und niedrigschwellige Möglichkeiten anzubieten. Zusätzlich würde der Einsatz von neuen Berufsgruppen als Ergänzung auch Inklusion lebbarer machen.
Es ist keine Lösung, nicht qualifizierte Personen als persönliche Assistenzen zu nehmen, die mal mehr und mal weniger passen. Hier kenne ich tatsächlich Menschen, die ein Geschenk sind und andere, die eine Katastrophe für die Kinder, die Gruppe und die begleitenden Erzieherinnen waren.
Chancengleichheit
Mehr Experten mit konkreten Schwerpunkten in den Einrichtungen, würden mehr als Momentaufnahmen ermöglichen und die Entwicklung aller Kinder in Deutschland niedrigschwellig fördern. Bei den U-Untersuchungen müsste nicht mehr gemalt, gesprochen und gehüpft werden und die Kinder würden viel mehr gesehen. Viel zu sehr hängen in einem reichen Land wie unserem die Chancen noch immer an der Herkunft. Das ließe sich auch mit einem solchen Aufstocken aufheben. Es würde Eltern entlasten, wenn ein Förderbedarf besteht. Es würde Inklusion erleichtern, den Alltag bunter machen und die Chancen vergrößern – für alle.