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Warum Langeweile für mich die wichtigste Förderung ist

Frau sitzt müde im Zug
Die Vor-Hölle sind die anderen Mütter
© Unsplash/ Abbie Bernet

Wenn man ein Kind bekommt, taucht man nicht nur ein in die Welt der vollen Windeln, der zahnlosen Lächeln und Wutausbrüche – zugleich lernt man auch die Welt der Mütterclubs und der Frühförderungen kennen. Und das war für mich ein echter Kulturschock.

Ein Sprichwort sagt: Auch wenn du am Gras ziehst, wird es nicht schneller wachsen. Dieser Spruch wird gerne zitiert, wenn ungeduldige Eltern es kaum erwarten können, dass:

  • das Baby kommt,
  • das Baby isst,
  • das Baby läuft,
  • das Baby in der Krippe bleibt,

… vermutlich also bis zum Auszug der Kinder oder sogar darüber hinaus. Schließlich möchte man als Eltern auch, dass sie ihre Ausbildung oder das Studium beenden. Aber so ganz zwischen uns, versuchen wir alle an unserem „Gras“ etwas zu ziehen, damit es am Ende ein bisschen schneller und voller wächst als bei unserem Nachbarn. Und wir schielen rüber und denken, hmmm, vielleicht ist es dort ein kleines bisschen grüner als bei uns.

Kurse über Kurse

Bei unserem ersten Sohn wollte ich unsere gemeinsame Zeit nicht in Kursen verbringen. Ok, ich hatte schlicht keine Ahnung, dass es fernab von Babyschwimmen noch mehr gab (naiv, ich weiß). Ich war noch an der Uni, mein Mann hatte vom dritten bis zum fünften Monat Elternzeit und danach war unser Sohn an zwei Tagen in der Woche bei Oma, weil ich Veranstaltungen hatte. Die restliche Zeit wollte ich im Park spazieren oder einfach gemeinsam zu Hause sein. Als ich doch zu einer Krabbelgruppe ging, tauchte ich in eine ganz neue Welt ein. Ich wurde eingeführt in die Welt der Kurse: PEKiP, Babymassage, Joggingkurse mit Buggy, DELFI-Kurse, Klangschalenmusik für Babys, Baby-Brei-Kochkurse … und über allen thronten die Mütterclubs und ich war – vorsichtig gesagt – irritiert.

Die Vor-Hölle sind die anderen Mütter

„Dein Kind dreht sich noch nicht? Jonte fängt schon an zu sitzen.“ – „Diese Schnalzlaute ignorieren wir einfach, die kommen in unserer Sprache nicht vor – das bringt Maiken ja nichts.“ – „Ach, du stillst nicht?“ – „Natürlich, Alva schläft schon durch. Wir haben da so ein festes Ritual und das hilft ihr.“ – „Elmo ist ganz ausgeglichen. Die Entspanntheit der Eltern überträgt sich immer aufs Kind.“ – „Für uns ist ganz klar, Susie bleibt ein Einzelkind. Sonst können wir ihr einfach nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken.“ – Bedauerlicherweise sind die Begegnungen mit anderen Müttern nicht gekennzeichnet von Verständnis und Empathie, sondern oftmals von Unsicherheiten und Vergleichen. Die schlimmsten Schulhofcliquen sind ein Witz gegen die Gemeinheiten von anderen Müttern.

Die größere Hölle sind die eigenen Zweifel

Und wenn die Mütterclubs einen mit ihren Bemerkungen aus der Bahn werfen, landet man selten genug im sicheren Stand. Viel häufiger landet man bei den eigenen Zweifeln. „Stimmt mit meinem Kind wirklich alles?“ – „Sollte es nicht schon lange sitzen?“ – „Habe ich das Stillen doch zu früh aufgegeben?“ – „Was mache ich falsch, wenn mein Kind nicht alleine einschläft?“ – „Bin ich nicht entspannt genug?“ – „Reiche ich nicht?“ – „Was mache ich verkehrt?“ – Das Elternsein scheint eine einzige Prüfung zu sein und in jeder Minute, vielleicht sogar Sekunde liegen wichtige Meilensteine. Wenn mein Kind nicht krabbelt, sondern direkt läuft, wird es garantiert einige Synapsen niemals entwickeln. Und dadurch ist es gezeichnet für den Rest des Lebens. Mit dem falschen Namen wird mein Kind immer falsch benotet und das ist meine Schuld. Und wenn ich nicht mindestens zwei Kurse mit dem Kind in der Woche habe, kann ich das Arbeitslosengeld für mein vernachlässigtes und völlig chancenloses Kind lieber direkt beantragen.

Gagelda im komplizierten Schienennetzverkehr

Unser zweiter Sohn sprach mit zwei Jahren gerade einmal „Mama“ und „Ja“. Die restliche Welt wurde mit „Ga“ und „Gagelda“ bezeichnet. Er verstand jedoch alles und konnte sich mitteilen. Aus dem Grund waren wir Eltern erst einmal entspannt. (Obwohl ich mich vielleicht schon fragte, ob mehr Klassik in der Schwangerschaft geholfen hätte.) Unsere Kinderärztin schickte uns nach der U-Untersuchung zur Sicherheit zum Ohrenarzt (mit Hirnstrommessung, aber ohne auffälligen Befund) und ins Sozialpädiatrische Zentrum. Der Kinderarzt dort stellte keine allgemeine Entwicklungsverzögerung fest und sagte zu mir: „Stellen Sie sich die menschliche Entwicklung wie ein kompliziertes Schienennetzwerk vor. Sie können nicht überall ICEs fahren lassen, zwischendurch muss auch ein Bummelzug fahren.“ Wenn bei einem unserer Kinder etwas länger dauert, ist das seitdem der Bummelzug, der einen der wichtigen ICEs vorlassen musste. Was will man machen?

Heute erzählt dieser Sohn übrigens sehr lange Geschichten (besonders gerne am Morgen vor meinem ersten Kaffee), aber er redet noch immer nicht mit jedem und wir waren vor der Einschulung ein Jahr bei der Logopädie.

Kurs in Langeweile

Bei unserer Tochter fragte mich eine Mutter in der Rückbildung, welche Kurse ich denn machen würde und zählte auf, was sie mit Baby Annabelle für ein Programm absolvierte: Laufen im Park, Rückbildung, Krabbelgruppe, Musik mit Babys und am Freitag kam immer Oma. Da ich solche Gespräche schon kannte (drittes Kind) und vermutlich etwas wenig Schlaf hatte (drittes Kind), antwortete ich: „Wir üben Langeweile. Eine Studie aus Schweden hat ergeben, dass Langeweile bei der Suchtprävention unglaublich wichtig ist. Und da heutzutage Sucht ein großes Problem in der Gesellschaft ist, gehen wir das in unserer Familie frontal an.“ Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob sie mir geglaubt hat, oder nicht. Aber seitdem habe ich meine Antwort. Ich fördere meine Kinder, so oft es der Alltag erlaubt: Ich schenke ihnen freie Zeit, um sich richtig tüchtig zu langweilen.

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