Kleine Streiche sind das eine…
Am Abend: „Reingelegt mit Klopapier, eine Rolle schenk ich Dir!“ Mein Fünfjähriger hüpft aufgeregt um mich herum, der Schalk blitzt ihm aus den Augen. Was ist passiert? Vor etwa einer Minute rief er: „Mama, hinter Dir steht ein Elch!“
Ich verstehe: Der Piefke will mich vereimern. Na, dann spielen wir mal mit. „Wo?!“, rufe ich und drehe mich hektisch um. K. freut sich diebisch, dass er es geschafft hat, Mama aufs Korn zu nehmen.
Jetzt will es auch P. wissen. „Mama, guck mal, da ist ein Storch!“ und zeigt aus dem Fenster. Dann wollen wir mal … „Wo!?“ Ich. „Reingelegt mit Klopapier …!“ Ich schlage mit der flachen Hand gegen meine Stirn. „Danke fürs Toilettenpapier“, sage ich betont würdevoll, „Kann man immer gut gebrauchen.“
Die Knirpse lachen.
…Lügen das andere
Vorletzten Samstag: Wir sitzen bei der Schwägerin an der Kaffeetafel. Sie fragt unseren Achtjährigen: „Freust Du Dich auf die Schule?“ Ich weiß die Antwort: Jawoll! Die sechs Wochen Ferien waren zwar schön, aber ziemlich lang. „Nö!“ Vehement schüttelt das Kind den Kopf. Oh. „Du vermisst Deine Freunde gar nicht?“ Erneut: „Nö!“
Lügen: eine Frage der Entwicklung
Bereits kleinen Kindern scheint das Lügen Spaß zu machen. Auch ich bekomme mit, wenn meine Jungs flunkern; Vorwürfe, Diskussionen oder Schlimmeres sind da nicht nutzbringend. Denn was tun die lieben Kleinen, die bestraft werden, erfahrungsgemäß? Genau: noch mehr lügen. Ich versuche also, zunächst einmal entspannt den Grund fürs Flunkern herauszubekommen.
In den sozialen Netzwerken frage ich Eltern, wie sie dem Thema „Lügen“ gegenüberstehen. Anne (43) aus Münster sagt: „Moralisch betrachtet finde ich Lügen auf Erwachsenenebene schlimm. Kinderlügen messen wir meiner Meinung nach aber zu viel Gewicht bei; immerhin muss der Mensch im Laufe seines Lebens erst einmal lernen zu lügen. Dafür müssen wir unseren Kleinen den Raum geben.“
Das Spiel mit der Wahrheit
Eine Frage der Entwicklung also? Definitiv; darüber sind sich Kinder- und Jugendpsychiater einig: Das Spiel mit der Wahrheit gehört zur Entwicklung: Kinder können bis zu ihrem vierten Lebensjahr zwischen wahr und falsch keine klare Trennung ziehen. Sie fantasieren, spielen mit imaginären Freunden. Was du über die sogenannte magische Phase wissen musst, liest du hier.
Mit etwa sechs Jahren erlangen sie die Fähigkeit, komplexere Situationen abzuschätzen:
Wie kann ich die Wahrheit verändern? Was passiert, wenn ich behaupte, mir bereits die Hände gewaschen zu haben? Harmlos.
Würden aber meine Söhne dauerhaft falsch angeben, die Zähne vorgeputzt zu haben, würde ich wieder mit dabei sitzen, bis ich „sicher“ bin: Sie tun es wirklich. Denn hier geht es um etwas „Essenzielles“. Und nebenbei erkennen meine Kinder, dass Wahrheit mit Vertrauen zu tun hat.
Wo sind die Grenzen?
Der 43-jährige Sven lebt nahe Leipzig. „Ich habe keine Kinder, glaube aber, dass sie flunkern, weil sie die Welt erforschen und verändern möchten.“ Genau. Stück für Stück mehr Erfahrung sammeln, Antworten finden auf die Fragen: Was ist „erlaubt“? Wo sind meine Grenzen, wo die der anderen? „Für die Kleinen sind ‚Lüge und Wahrheit‘ noch keine festen Größen, sondern dehnbare Werte.
Das Verständnis von ‚richtig und falsch‘ muss sich erst langsam herausbilden“, fasst es der 55-jährige Hubertus aus Quakenbrück zusammen. „Man kann einem Dreijährigen nicht das Verständnis abverlangen, das sich ein Zehnjähriger gerade so erarbeitet hat.“
Doreen (50) aus Hamburg bespricht deshalb alles vis-à-vis mit ihren vier Kindern im Alter von sieben bis 17 Jahren – auch das Thema Unehrlichkeit, immer wieder auf anderem Niveau, je nach Alter.
„Meine Kids wissen: Menschen sind aus verschiedenen Gründen unehrlich: aus Angst, Unsicherheit, Höflichkeit. Lügen helfen aber auf lange Sicht nicht, etwas zu verändern. Ehrlichkeit kann Schmerzen verursachen, ist aber besser als Geflunker – zumal daraus schnell eine fette Lüge erwachsen kann, die schlimme Konsequenzen mit sich bringen kann – für den Lügner und den Belogenen.“
Die sechsköpfige Familie redet offen über den Wert von Aufrichtigkeit „und die Wertschätzung, die sie bedeutet.“ Ich darf also der Oma sagen, dass mir ihr Geburtstagsgeschenk nicht gefallen hat? „Ja!“, findet Doreen. „Aber eben wertschätzend.“
Offenheit von Anfang an
Wie aber ist es beispielsweise mit Lügen, die anderen Kindern schaden? „Die sollte man auf keinen Fall mit einem Augenzwinkern abtun“, meldet sich die 44-jährige Grundschullehrerin Maike aus Bochum zu Wort. „Hier sollte das Kind zur Rede gestellt werden. Lehrer und Erziehungsberechtigte müssen erklären, dass man mit seinen Mitmenschen so nicht umgehen darf. Dazu bedarf es einer idealerweise bereits im Elternhaus vermittelten Offenheit in solchen Dingen.“
Sonja, 35 Jahre alt, aus München, hinterfragt zurzeit ihr eigenes Verhalten: „Als ich herausfand, dass mein achtjähriger Sohn über einen längeren Zeitraum gelogen hatte, fragte ich ihn, warum er mir denn nicht gleich am Anfang die Wahrheit gesagt habe. Er begann zu weinen.
Er habe Angst vor Bestrafung gehabt und sich deshalb nicht getraut. Es wüteten wohl einige Dämonen in seinem Kopf …
Da habe ich geschluckt und mich gefragt: War ich zu streng? Ich versuche jetzt konsequent, meinem Kleinen zu vermitteln, dass er mir alles sagen kann.“
Auch der 51-jährige Oldenburger Torsten sammelte in der Vergangenheit so manche negative Erfahrung mit dem Thema Lügen: „Wenn meine Tochter log, beunruhigte mich das. Denn sie tat es aus Angst davor, Fehler oder Missgeschicke zuzugeben. Aus meiner Sicht war die Furcht unbegründet, es gab ja keine Strafen oder Gemecker, Fehler sind menschlich. Trotzdem hat sie gelogen; das hat sich jetzt mit 18 Jahren gelegt.“
Alles braucht seine Zeit – findet auch Hubertus – und hat ein gutes Schlusswort: „Lasst den Kindern ihre Sicht auf die Dinge, ihre Zeit zum Lernen und Verstehen ist so kurz.“