Nicht schon wieder Neustadt

Zwei Mädchen lesen ein Buch
©Ben White via Unsplash

Das Leben in Kinderbüchern ist einfach. Der Himmel ist blau, die Menschen freundlich und Kindergartenplätze gibt es auch ausreichend. Das ist natürlich eine Vereinfachung, aber wenn ich mir so unsere kleine Familienbibliothek ansehe, trifft das einfach zu. Natürlich gibt es nicht mehr nur Karl und Katharina in den Büchern, sondern auch Kaan, Kim und Kathleen. Die Bücher, die Preise gewinnen, sind natürlich nicht so einfach gestrickt. Aber die Bücher, für die Buchhandlungen und auch Büchereien ganze Regalbretter freiräumen, sind ziemlich weit entfernt von der unübersichtlichen Realität. Offenbar können sich Verlage in Buchhandlungen genauso Regalmeter kaufen wie Danone und Co. im Supermarkt. Warum sind die Bücher irreal? Das liegt auch an ihrem neutralisierten Setting.

Als Papa von zwei Jungs habe ich auch schon ganz viele gegenderte Bücher gekauft. Die sind zwar nicht blau, aber Maschinen, Flugzeuge und Züge müssen immer enthalten sein. Apropos Eisenbahn: In den Illustrationen von Reisen, abfahrenden und ankommenden Zügen der verschiedenen Baureihen, darf natürlich auch ein Bahnhof nicht fehlen. Und wie heißt der oft? Neustadt.

Über Neustadt ist der Himmel blau und das Leben ist gut.

In einem Buch, das ich sehr oft vorlesen durfte, liegt das westlich von Hannover.

Oder auf dem Autobahn-Abfahrtsschild prangt Neustadt. Warum ist das so? Das scheint so eine Art Übereinkunft der Kinderbuchautoren zu sein, nur ja keine Stadt, die es gibt, zu bevorzugen. Stattdessen nimmt man eine Stadt, die es gibt, aber die irrelevant ist und projiziert alles in sie hinein. Auch der neueste Conni & Co-Film spielt natürlich dort, wie das
Kinderbuch auch.

Warum muss es eigentlich immer Neustadt sein?

Das ist ja gar kein neuer Trend. Das war schon so, als ich noch ein Kind war. Damals gab es noch nicht mehr als 100 Folgen von meinem Lieblings-Hörspiel-Elefanten Benjamin Blümchen. Und der Zoo befand sich natürlich in Neustadt. Soweit ich das recherchieren konnte, hat aber keines dieser Neustadts einen Zoo. Die sind alle nicht besonders groß, die größten davon sind gerade mal Kreisstädte.

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Keine dieser Neustädte ist für sich genommen eine Reise wert (glaube ich nach einer Wikipedia-Recherche). Nein, sie sind deshalb in die Bücher gekommen, weil sie so gesichtslos sind. Sie sind die Erika Musterfrau unter den Städten: Ein Platzhalter für gar nix, in den jeder Leser etwas hineininterpretieren kann.

 

Und dass echte Städte kaum vorkommen, halte ich für einen Fehler.

Kinder stellen Fragen. Wer schon mal von der Warum-Phase gehört hat oder sogar eine mitgemacht hat, weiß, was ich meine. Warum spielen die Bücher nicht in Düsseldorf, Stuttgart oder Frankfurt? Es müssen ja nicht immer die Millionenstädte sein. Diese Verortung hilft, um als Eltern auch mehr über die Location erzählen zu können. Gerade bei etwas älteren Zuhörern kommt man schnell auf diese zweite Ebene. Und was soll man schon über das gesichtslose Neustadt erzählen? Da fällt mir außer Benjamin Blümchen nämlich gar nix ein.