WHO lehnt Kristellern als geburtshilfliche Routine ab
Wer danach sucht, der findet viele Geschichten von Frauen, die über zum Teil traumatische Geburtserlebnisse berichten, weil ihr Kind mit dem Kristeller-Handgriff auf die Welt geschoben wurde. Solche Geburtsberichte lesen sich wie Horrorgeschichten und können Angst machen. Eine gesunde Skepsis gegen diese Methode ist jedoch berechtigt.
Seit 2018 rät die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausdrücklich vom Kristellern ab. Und auch der aktuelle Forschungsstand kann nicht belegen, dass die Geburtsdauer durch das Kristeller-Manöver überhaupt verkürzt werden kann. Satt dessen konnte ein erhöhtes Verletzungsrisiko für Mutter und Kind nachgewiesen werden. Deswegen warnt der Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe ebenfalls vor dem Eingriff.
Kristeller-Handgriff wurde im 19. Jahrhundert entwickelt
Die Methode des Kristellerns wurde im 19. Jahrhundert von dem Berliner Gynäkologen Samuel Kristeller entwickelt. Seide Idee war, durch langsam ansteigenden Druck von außen auf den oberen Gebärmutterrand die Geburt zu beschleunigen, um so eine vaginal-operative Entbindung zu vermeiden: also zum Beispiel eine Saugglocken- oder Zangengeburt. Da zu dem damaligen Zeitpunkt der hygienische Standard noch ein ganz anderer war und ein Eingriff immer mit einer erhöhten Infektionsgefahr und möglichem Kindbettfieber einherging, war seiner Einschätzung nach das Kristellern die bessere Alternative für Mutter und Kind.
Verletzungen durch Kristellern mit dem Unterarm
Beim Kristeller-Handgriff umfasst der Geburtshelfer mit flach aufgelegten Händen den oberen Teil der Gebärmutter (fundus uteri). Bei jeder Wehe wird nun Druck von oben ausgeübt, gleichzeitig presst die werdende Mutter mit. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass der Muttermund vollständig geöffnet ist und das Köpfchen des Babys richtig im Beckenausgang liegt. Häufig drückt der Geburtshelfer beim Kristeller-Manöver aber nicht nur mit den Händen, sondern übt mit dem ganzen Unterarm Druck auf den Uterus auf. „Der oft zu sehende Fundus-Druck mit dem Unterarm (…) ist nicht zu empfehlen, da sich das Kind kaum in Führungslinie halten lässt und der Druck der harten Unterarmknochen Gewebeschädigungen am Myometrium und Hämatome verursachen kann.“, schreibt die Hebamme Ulrike Harder in dem Artikel „Verzögerte Kopfgeburt – Alternativen zum Kristeller-Handgriff“ in der Fachzeitschrift Die Hebamme. Selbst Verletzungen wie gebrochene Rippen oder Prellungen sind möglich.
Solche Komplikationen vor Augen, ist das Wort Gewalt dann doch nicht so abwegig – zumal Studien die Wirksamkeit stark anzweifeln. Wie oft das Kristellern tatsächlich angewendet wird, dazu gibt es keine genauen Zahlen. Das variiert von Klinik zu Klinik. Klar ist, ohne medizinische Notwendigkeit – etwa einer Sauerstoffunterversorgung des Kindes (Hypoxie) – sollte diese Methode ohnehin nicht in Frage kommen. Und auch dann erst in der allerletzten Phase der Presswehen. Die Initiative GreenBirth e.V. fordert: „Mutter und Vater müssen auf jeden Fall vor dem sog. „Kristellern“ verständlich informiert werden. Auch in Notsituationen bleibt Zeit für eine kurze Erklärung. Die Aussage „Wir drücken jetzt ein bisschen von oben mit“ reicht nicht aus angesichts der Heftigkeit dieser Intervention.“
„Gewalt in der Geburtshilfe darf nicht sein“
Der Deutsche Hebammenverband hat in den letzten Jahren immer wieder kritisiert, dass sich viele Frauen zunehmend einer gewissen Gewalt in der Geburtshilfe ausgesetzt fühlen – auch bedingt durch den akuten Hebammenmangel. In dem Positionspapier „Gewalt in der Geburtshilfe darf nicht sein“ aus dem Jahr 2018 kritisiert der Verband: „Zu den verbreiteten Missständen und daraus entstehenden Gewalterfahrungen in der Geburtshilfe gehören die Durchführung fragwürdiger Routinen wie beispielsweise Bewegungseinschränkungen, medizinisch nicht indizierte oder ohne Einverständnis durchgeführte Untersuchungen (…)“. Dazu ist durchaus auch das Kristellern zu zählen. Vor allem, wenn die werdende Mutter vorab nicht ausreichend darüber informiert wurde.
Es gibt genügend Alternativen zum Kristellern
Hebamme Harder kommt in ihrem Fachartikel zu dem Fazit, dass „mit etwas mehr Geduld in der letzten Geburtsphase“ der Kristeller-Handgriff gar nicht mehr angewendet werden müsse. Häufig hilft es schon, die Position gelegentlich zu ändern und eine für sich ideale Geburtsposition zu finden. Wichtig ist es, dass du dich beim Pressen mit den Füßen gut abdrücken und dich mit den Händen irgendwo festhalten kannst. Unterstützend kann der Geburtshelfer auch etwas Druck auf dein Becken geben, um den Beckenausgang zu erweitern.
Auch Alternativen wie etwa eine Saugglockengeburt sind möglich, wenn die Kopfgeburt wirklich stillsteht. Ganz risikofrei sind diese Eingriffe zwar nicht, die Infektionsgefahr ist aber eher gering. Da heute Infektionen bei der Geburt selten vorkommen, kann man den Kristeller-Handgriff nicht mehr rechtfertigen. Auch Gesundheitsexperten, Hebammen und Gynäkologen sind sich einig, dass der Kristeller-Handgriff keine gängige geburtshilfliche Routine (mehr) sein sollte.